1934 - 1938

Im Hinblick auf das Gesamtwerk von Otto Greis, dass sich über sieben Jahrzehnte hinweg entwickelt, kann die Zeit von 1932 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als eine erste malerische Orientierungsphase gelten.

Greis bricht 1934 sein Maschinenbaustudium ab, um freier Künstler zu werden. Er erinnert sich: „Ich lernte einen ehemaligen Schüler von Karl Hofer kennen, der in der Städelschule sein Atelier hatte. Zwar war Hofer für mich damals noch kein Begriff, das war auch nicht das Entscheidende, entscheidend war das Erlebnis, mich einer Bildwelt gegenüber zu sehen, die mich in ihrer Geschlossenheit überwältigte, und da ist der Funke übergesprungen: Mensch, du kannst dir ja eine Welt aus Bildern aufbauen. Ich wusste natürlich damals noch nicht wohin mich mein Weg führen würde. Aber einfach die Tatsache, dass man in der Malerei sein eigenes Universum aufbauen kann, das hat mich begeistert.“1

Bis 1938 nimmt Greis privaten Mal- und Zeichenunterricht bei Johann Heinrich Höhl. Als wichtige Essenz dieser Lehrjahre betrachtet der Künstler rückblickend die malerische „Durchbildung der Form, die damit auch auf ihre innere Struktur verweist2.

Otto Greis gelingt es, durch die Vermittlung von Höhl, in den Kupferstichkabinetten von Bremen und Düsseldorf Papierarbeiten von inzwischen als entartet geltenden Künstlern, wie Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff, zu betrachten.

Während der Sommermonate zieht es ihn nach Norddeutschland. In Ostfriesland und im Alten Land entwirft Greis Landschaftsaquarelle von leuchtender Farbigkeit, die eine Orientierung am Expressionismus vermuten lassen.

Im Herbst 1939 wird der Künstler zum Kriegsdienst eingezogen und in Kassel als Sanitätssoldat ausgebildet. Damit endet zunächst sein malerischer Beginn.

1 Gespräch Otto Greis/Barbara Auer, 15.4.1996, Kat. Otto Greis, Kunstverein Ludwigshafen am Rhein e.V. 1996, S.7

2 ebd., S.7

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1960 - 1962

Anlässlich der Otto Greis Retrospektive 1962 in der Mannheimer Kunsthalle, erscheint von Wieland Schmied in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung folgende Beschreibung der aktuellen Werkserie:

Mit dem Gemälde ‚Windstoß’(1959) ist der neue Otto Greis ganz da. Was in den ursprünglich wogenden tachistischen Bildern zur Materialanhäufung erstarrt war, ist wieder ins Strömen geraten, ist in hyperbolischen Figuren unterwegs, von innerer Dynamik erfüllt. Zugleich beginnt das Weiß sich auszubreiten, zuerst nur als trennendes Element zwischen den einzelnen Formflecken, ein Fluß, ein See zwischen ihnen. Doch dann wird es mit zarten Haarpinseln (die Greis sich eigens anfertigen ließ) vorsichtig über die Farben gelegt, überschwemmt sie, deckt sie zu, nimmt immer mehr Raum ein, bildet große zusammenhängende Flächen, die das ganze Bild überziehen, und bald weiß man nicht mehr: sind es Seen von Weiß in farbigen Landkarten oder sind die durchschimmernden Farbrelikte nur noch überspülte Inseln im weißen Meer. Diese Entwicklung zum Schweigen, zum Verstummen hin, diese Zurücknahme der gerade voll erblühten, entfalteten, aufgefächerten Farbe, die auf den Bildern des Jahres 1959 strahlte, grünte, sprosste, wäre eine Verarmung des Bildes, würde sie nicht von einer Nuancierung der Farbwerte und einer Sensibilisierung der Bewegung begleitet, die hinter allen Verhüllungen das Bildgeschehen reich instrumentiert. In der letzten Phase tritt (...) ein helles, intensives Gelb mit ins Bild ein, um es fortan neben dem Weiß zu beherrschen: ein letztes helles Aufleuchten der Farbe, ehe sie aufhört und aufgeht in reiner, intensiver Strahlung.“1

Als „Lichtmodulationen“ lassen sich die Bilder dieser relativ kurzen Werkphase von 1960 – 1962 charakterisieren und auch interpretieren. Otto Greis verzichtet zunehmend auf die Linie als Gestaltungsmittel und entwickelt die Kompositionen vornehmlich aus der Farbe heraus, die mit kurzen, vibrierenden Pinselstrichen aufgetragen ist. Die Bilder „Avant le temps“, 1961, und „Naissance nacrée“, 1962, zeigen eine kaum weiter zu führende Reduzierung der Farbe zum beinahe weißen Bild und damit zu einer fast nicht mehr zu steigernden innerbildlichen Lichthaltigkeit. Die subtilen Farbtonabwandlungen, die Modulationen, dienen Greis als malerisches Gestaltungsmittel. Paul Cézanne ist als künstlerisches Vorbild evident. Seine bekannte Äußerung: „Man sollte nicht sagen (Körper) modellieren, sondern (Farben) modulieren“2, weist über seine Absicht, die Farbe zum bildkonstituierenden Mittel zu erheben hinaus, und öffnet die Malerei für musikalische Ideen. Otto Greis, der über viele Jahre Violine spielte und während des Malens häufig Musik hört, findet in den subtilen Farbtonmodulationen eine malerische Ausdrucksform für sein musikalisches Empfinden. Musiktheoretische Ideen sind für ihn weniger inspirierend, als vielmehr die Wahrnehmung gebauter Ordnungen und Harmonien in der Musik. Er erklärt diesbezüglich 1992: „ Darum schätze ich Messiaen: Die ihm eigentümliche Rhythmik der Ordnung, die gesetzt ist, damit der Ton zu einem ihm bestimmten Klangereignis transponiert wird und im akustischen Raumgebilde seinen ganz bestimmten Platz erhält.

Auch der Ruf eines Vogels in einer einsam verkarsteten Landschaft ist verkettet mit ihr. Die Farbe in der Malerei, die ich umkreise, ist verkettet mit ihrem ‚Gebilde’, in dem sie in ihrer einmaligen Höhe erscheinen soll.“3

Die Farbmodulationen bieten dem Künstler eben diese Möglichkeit, die feinsten Tonabstufungen im Bild miteinander zu verbinden bzw. farbige Bezüge herzustellen. Auf diese Weise „komponiert“ Otto Greis anfang der 60er Jahre luzide Lichtbilder, die in ihrer farbigen Verknüpfung durchaus mit Cézannes Bildtextur vergleichbar sind. Cézannes nachstehend zitierte künstlerische Prämisse besitzt auch für Greis, als abstrakt arbeitenden Künstler, formale Gültigkeit:

Es darf keine einzige lockere Masche geben, kein Loch durch das die Wahrheit entschlüpft. Ich lenke den Realisationsprozeß auf meiner Leinwand in allen Teilen gleichzeitig. Ich bringe im gleichen Antrieb, im gleichen Glauben alles miteinander in Beziehung, was auseinanderstrebt. Die Natur ist immer dieselbe, aber von ihrer sichtbaren Erscheinung bleibt nichts bestehen. Unsere Kunst muß ihr das Erhabene der Dauer geben (...) Ich nehme rechts, links, hier, dort, überall diese Farbtöne, diese Abstufungen, ich mache sie fest, ich bringe sie zusammen (...) meine Leinwand verschränkt die Hände. Sie schwankt nicht. Sie ist wahr, sie ist dicht, sie ist voll.“4

Greis’ Bilder, die in ihrer Farbwahl ganz der Helligkeit verschrieben sind, besitzen eine entsprechend subtil gestaltete Räumlichkeit. Die Bildfläche, die nicht mit dem tatsächlichen Bildträger, der Leinwand, identisch ist, erweckt den Eindruck einer elastischen Ebene. Die dritte Dimension erschließt sich dem Blick als ein bewegtes farbräumliches Kontinuum. Arnulf Herbst präzisiert den Licht-Raum-Charakter der Bilder treffend:

Ein charakteristisches Hauptwerk aus der ersten Pariser Zeit ist ‚Äolus’, 1960. Die Helligkeit dieses Bildes und vergleichbarer Arbeiten aus dieser Phase ist beeindruckend, vor allem, wenn man es mit früheren Arbeiten vergleicht. Farbflecken von eigentümlicher Transparenz, die sich in einer leicht schwebenden Komposition zusammenfügen und dabei durch Massierungen in kleinere Zentren eine Stabilisierung der Gewichte herstellen, bilden einen Lichtraum, dessen unendliche Tiefe sich jeder Definition entzieht. In einer völligen Umkehr zu vorangegangenen Arbeiten wird der Malgrund in die Darstellung der Lichtkomposition mit einbezogen und als lichtbildende Schicht aktiviert. Wie Schlieren ordnen sich auf dieser Transparenz bewirkenden Folie die einzelnen Farbkörper, die in einem gesteuerten Bewegungsfluß erscheinen.5

Die künstlerische Absicht, das Bild als ein autonomes „Raumkörpergebilde“ zu entwickeln ist auch in dieser annähernd monochromen Werkreihe sichtbar. Dahinter verbirgt sich die Idee, ein „haptisches Empfinden“ malerisch in ein „optisches Phänomen“ umzusetzen - für Otto Greis eine grundlegende Aufgabenstellung in der Malerei.6

In einem an Karlheinz Gabler, Kunstsammler und Freund, gerichteten Brief von 1960, formuliert Greis seine kunsttheoretischen Überlegungen genauer: „Viele Maler hören dort auf, wo das eigentliche Problem der Malerei beginnt, bei der Durchdringung mit der dritten Dimension. Dieses ‚vorzeitige Beenden’ hat einige wesentliche Gründe, auf die ich jetzt nicht eingehen will. Wichtig ist, dass die gegenstandslose Malerei dazu verleitet, zweidimensional zu bleiben, also die Konzeption von gegenstandslosen Formen auf eine Zweidimensionalität zielt. Dadurch wird das Gestaltproblem nicht umfassend genug berührt, das Bild bleibt eine zusammengesetzte und wieder auseinandernehmbare Konstruktion. Für mich ist auch ein ungegenständliches Bild ein Bild wie jedes andere oder frühere, an das sich das Wort ‚Bild’ richtet: Ein ‚Raumkörper’ (ich finde dafür kein besseres Wort).

Imagination und die Mittel (worunter ich den geistigen Teil des Handwerks verstehe) hängen eng zusammen. Diese Mittel, gebildet analog zur Natur, haben für mich die Funktion eines Fermentes, das meine Imagination zur Reife treibt. Imagination und Theorie müssen sich begegnen, um sich durchdringen zu können. Eine Begegnung mit dem Universum schlechthin.

Oder anders gesagt: Ich arbeite so lange, ich versuche meine Erregung so lange den Widerständen der dritten Dimension und meiner Bildkonzeption entgegenzusetzen, daran zu brechen, bis ein ‚Bildraumkörper’ entsteht. Bis die Formen in allen Dimensionen unendlich fortmoduliert sind und eine Verknotung mit allen drei Dimensionen erreicht ist. In einem solchen Gebilde hat die Linie keine Existenz mehr, ihr Vorkommen würde die unendliche Modulation unterbrechen, diese bildet die Möglichkeit der völligen Verriegelung der Fläche, was die Voraussetzung für einen autonomen Bildraum ist. In diesen Raum kann weder etwas hineinbrechen noch aus ihm heraus, es ist eine Fixierung aller Bildteile eingetreten. Das Dynamische hat sich verwandelt in Rhythmus, der die dritte Dimension als Schwingung erfasst, als eine ständig vibrierende Tiefenbewegung. Alle Teile sind verankert und bewegen sich zugleich nach der Tiefe hin und zurück; ich möchte die Bewegung in der Ruhe, dass Dynamik und Statik zusammenfallen.

Die Schwingungen nach der Tiefe hin sind für mich das Haptische in der Malerei. Diese Verwandlung eines haptischen Empfindens in ein optisches Phänomen ist für Malerei in ihrer ganzen Bedeutung. Ein Eingespanntsein in einen Realisationsprozess, der sich an alle Sinne richtet. Für den Maler ist das die wunderbare Teilnahme an der Welt. Doch vergessen Sie bei diesen Worten nicht, dass Sie einen Maler fragen, und das er Antwort nur in seinen Bildern gibt. Hoffentlich bleibt nach dem Gesagten in meinen Bildern noch ein ‚unerklärlicher Rest’ - auf diesen kommt es dann im Grunde an – am Ende soll die Verzauberung stehen.“7

Über vier Jahrzehnte hinweg, verbunden mit einigen malerischen Umbrüchen, behalten diese Ideen für Otto Greis ihre Relevanz.


1 Wieland Schmied, Farbinseln im monochromen Meer - Otto Greis in der Kunsthalle Mannheim, in: FAZ, 19.3.1962

2 Paul Cézanne, Maurice Denis, Cézanne (Gespräche), in: Denis, Théories. Paris 1920, zit.n. Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbek 1977, S.28

3 Brief von Otto Greis an Lorenz Dittmann, 20.9.1992, zit.n. Kat. Otto Greis, Galerie Katrin Rabus, Bremen 1993, o.Pag.

4 Joachim Gasquet, Cézanne (Gespräche), Paris 1921, deutsch Berlin 1930, zit.n. Walter Hess, a.a.O., S.19

5 Arnulf Herbst, Farbe und Licht bei Otto Greis, in: notabene medici, 12, 1984, S.1106

6 Brief von Otto Greis an Karl-Heinz Gabler, 23.10.1960, zit.n. Kat. Otto Greis. Retrospektive zum 75. Geburtstag, Landesmuseum Mainz 1989, S.8

7 ebd., S.8

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1963 - 1968

Das Jahr 1962 zeugt von einem erneuten malerischem Umbruch. Noch entstehen die hellen, beinahe weißen Bilder, wie z.B. „Naissance nacrée“, an dem Otto Greis vom November 1961 bis in den Mai des Jahres 1962 immer wieder arbeitet. Nebenher beginnt der Künstler mit Malereien, in denen sich deutlichere Formkompartimente artikulieren. Ein großformatiges Bild des Übergangs ist „Clairière“ von 1962. Im Jahr darauf äußert sich die künstlerische Suche in einer kräftigeren Farbpalette und plastisch herausgearbeiteten Form-Raumverspannungen. Ab 1963/64 – die Werke „Ode“, oder „Bois de Luthier“ zeigen es beispielhaft - wirken die Bildtafeln wie Ausschnitte aus einem großen, weit über die Leinwand hinausgreifenden, dynamischem Formgeschehen. Der Bewegungseindruck resultiert aus den vornehmlich in Bahnen sich entfaltenden Farbmodulationen. Kantig, rund, aufstrebend, abwärtsfallend, vollzieht sich auf der Leinwand ein vitales Spiel von Formen, die in keinem Gegenstandsbezug stehen. Das Auge des Betrachters folgt dem Rhythmus der Gestaltung. Die Farbpassagen geben in ihrem Verlauf den Takt an. Das musikalische Element, das aus den Bildern der 60er Jahre spricht, findet anlässlich von Greis’ Einzelausstellung in der Pariser Galerie Synthèse, 1967, in zahlreichen Zeitungsrezensionen explizit Beachtung.1 Otto Greis nimmt seit seinem Umzug in die Île de France am aktuellen Pariser Kunstgeschehen teil. Er besucht die wöchentliche Diskussionsrunde „ligne 4“, geleitet vom Kunstschriftsteller Roger van Gindertael, und knüpft Freundschaften, vornehmlich zu Bildhauerkollegen. Christa Lichtenstern beschreibt: „1962 lernt er im Salon des Réalités Nouvelles den Steinbildhauer Maurice Lipsi kennen. Lipsis subtil organisierte Massenführung berührt ihn als Maler wahlverwandt.(...) An die Stelle von Lipsis Artikulation innerer Strukturen sucht Greis über das ‚superposé’ der Farbflächen die taktilen Werte als optische Sensationen aufscheinen zu lassen. Grundsätzlich interessiert Greis an einer Plastik die Art, wie die Oberflächenbewegungen gehalten sind. Besonders verlockt es ihn, >>ein Relief ‚umzudenken’, d.h. seine räumlichen Ordnungen der Pläne als Flächenbild zu sehen und mehr noch, Passagen zu erfinden und so für das Suggerierte eine Flächenform zu bilden. In der Malerei ist die dritte Dimension oder das, was auf Raum verweist, eine Flächenquantität, dabei ist es gleich, ob es sich um Atmosphäre (...) oder um eine feste Form im Bilde handelt, beides sind Flächenquantitäten, die verankert sind im autonomen Gestaltungssystem und Bildgefüge.<<2

Die Passage, die bereits im Kubismus dazu diente Formen zu öffnen und zu verwandeln, um schließlich eine Verbindung aller Bildteile herzustellen, gibt auch Otto Greis das Mittel an die Hand seine abstrakten Formen- und Raumvorstellungen in einem ununterbrochenen Bildgefüge zu verwirklichen. Die in fortwährender Übergänglichkeit begriffenen Farbtöne und die damit einhergehende Auffächerung des Bildgrundes in zahlreiche Ebenen, lässt an Werke von George Braque und auch Paul Cézanne denken. Die künstlerische Absicht beider Maler zielte auf einen Bildaufbau, der einer inneren Gesetzmäßigkeit verpflichtet ist. Die Bildelemente Farbe und Form sind entsprechend eng auf einander bezogen. Die Bildkonstruktionen Cézannes und auch Braques autorisierten sich zunehmend vom Sujet und leiteten eine Kunstauffassung ein, die der autonomen Bildgestaltung wachsende Bedeutung beimass. Otto Greis knüpft an diese künstlerische Tradition an und erarbeitet in seinen Werken eine „Bildwirklichkeit“, die frei von Gegenstandsreferenzen ist und aus dem mannigfaltigen Bezugssystem von Farbe, Form, Raum und Licht lebt. Vergleichbar mit Cézannes malerischem Bestreben, in seinen Bildern keine „lockere Masche3 entstehen zu lassen, zeigen auch Greis’ Werke eine durchgehende Verknüpfung aller Bildteile. Noch dichter „gewebt“ wirken seine Arbeiten ab 1964/65. Geradezu „fließend“ greifen die Formen ineinander. Die Palette des Künstlers wechselt auf die warme Seite der Farbskala. Herrschten bislang kühle Farbtöne vor, wie helles Grau, mit Weiß gebrochenes Blau, Beige und Grün, dominieren in den Bildern ab 1965 Variationen von Braun und Grün das Bildgeschehen. Das Farbenspiel der Ufervegetationen an der Seine, Loire, an den Flüssen und Kanälen Frankreichs, die Greis mit dem Boot befährt, wirkt anregend. Die Natur bleibt zeitlebens eine Inspirationsquelle des Künstlers, allerdings ohne sich abbildhaft auf der Leinwand wiederzuspiegeln. Die Werke versinnbildlichen vielmehr seine geistige Haltung gegenüber dem Leben und seinen Erscheinungen. Otto Greis: „Der ‚Anruf’, der zum Malen drängt, kann durch einen Laut, einen Duft, eine Linie kommen“. Jedoch: „Beim Kunstwerk handelt es sich (...) nicht darum, einen Vorgang zu erzählen.“ 4

Interessant für die Bildgestaltungen der 60er Jahre sind folgende Erläuterungen, die Otto Greis 1982 formuliert: „ Noch einmal greife ich unser Gespräch auf und die Erinnerung an das, was ich Ihnen an einer meiner Zeichnungen anschaulich machte: Die Passagen der Pläne, also die Übergänge, die das Auge unmerklich von einem Plan innerhalb des Bildraumes zum anderen wandern lassen. Für mich haben diese Passagen besondere Bedeutung. Passagen, die durch die Organisation auf der Bildfläche alle Formteile zu einem einheitlichen Formereignis, zu einer Bildform zusammenschließen. Weiterhin sind wesentlich die Bildtiefen, die wie in die Fläche eingetriebene Fugen erscheinen, Schlüsselpunkte, von denen die Funktion eines ‚Anrufes’ ausgeht: Das Bestimmte ruft nach dem Unbestimmten und umgekehrt. Der Reichtum der Variationen dieser Fugen in ihrer Vielgestalt überlassen mich einer Formbildung etwa analog dem Wachsen in der Natur, in der ja Form und Wesen eins sind. Ein gewisses Nacherschaffen der treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen, eine Kunstnatur parallel zur Natur, die uns umgibt.“5

Ganz im Sinne Paul Cézannes, vergleicht Greis die Entstehung eines Kunstwerks mit der Formbildung in der Natur. Er findet in den Werken der 60er Jahre zu einer Formensprache, die in ihrer Übergänglichkeit, diesem Wachstums- und Verwandlungsgedanken Ausdruck gibt. Ganz im Abstrakten, kreiert Otto Greis seine „Harmonie parallel zur Natur6.






1 Vgl. Christa Lichtenstern, Gedanken zum französisch-deutschen Dialog im Werk von Otto Greis, in: Otto Greis, Aufbruch in eine neue Bildwirklichkeit, München 2000, S.23

2 ebda., S.23

3 Joachim Gasquet, Cézanne (Gespräche), Paris 1921, zit.n. Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbeck 1956, S.19

4 Undatierte Äußerungen des Künstlers, zit.n.: Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd.4), Aachen 2002, S.

5 Aus einem Brief von Otto Greis, La Frette sur Seine, Dezember 1982, ebd., S.48

6 vgl. Anm.3

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1970 - 1986

Anfang der 70er Jahre beginnt Otto Greis, nach zahlreichen Studien in Bleistift und Aquarell, in seinen Leinwandbildern eine neue Farbe- und Formensprache zu entwickeln. Ausschlaggebend mag dafür eine Veränderung seiner Lebens- und Arbeitsituation gewesen sein. Er kauft sich 1969 einen Motorsegler und befährt gemeinsam mit seiner Frau Margaret Bolza-Greis das Mittelmeer. Christa von Helmholt entwirft einen anschaulichen Eindruck von den Bootsreisen des Künstlerpaares: „Und jeden Sommer leben Otto und Margret Greis auf ihrem Hausboot auf dem Mittelmeer. Puerto Andraitx auf Mallorca und Alicante an der spanischen Küste sind dann für sechs Monate ihre Heimathäfen. Von da aus fahren sie hinaus aufs Meer, Piraten, die nach den Sensationen des Lichts jagen.“1

Die Farbpalette des Künstlers wird hell und licht. Die Grau-, Braun- und Grüntöne der vorangegangenen Jahre sind in den neuen Kompositionen nicht mehr zu finden. Auf diesen deutlichen Farbwechsel angesprochen, erläutert Otto Greis 1974: „Die Mittelmeerlandschaft und die damit verbundenen optischen Erlebnisse, haben bei mir eine Licht-Farbkonzeption zur Reife gebracht, die schon vorhanden war und in der Île de France entstanden ist. Vorbereitet wurde sie durch Reisen nach Italien zu den Werken von Piero della Francesca, Antonello da Messina und Bellini, in den Jahren 1961 und ‘62. Durch das südliche Meer entdeckte ich also etwas für mich auf meine Weise neu, was schließlich schon vorgebildet war. Ich fand meine Welt, meine Vision, irgendwann treffen wir auf unser Bild, ich möchte dies die Begegnung mit der Imago nennen.“2

Der Brief verdeutlicht, dass die äußeren Gegebenheiten auf die Bildgestaltung stimulierend wirken, entscheidend aber die Sensibilität des Künstlers ist.

Die gebrochenen Farbtonvariationen von Gelb, Hellblau, Rosé und Violett, die die Farbgestaltung seiner Werke bis etwa 1987 bestimmen, hat Greis seit Anfang der 60er Jahre durch sein Studium der italienischen Renaissancemalerei, „ein auf uns gekommenes großartiges Erbe der Verzauberung3, wie er erklärt, verinnerlicht. Für den Künstler ist es daher keine konzeptuelle Entscheidung Farben mit Lichtcharakter zu wählen, sondern es entspricht seiner tiefen Affinität für das Licht mit seinen farbigen Phänomenen.

Charakteristisch für die Arbeiten dieser Werkphase ist ein äußert feiner und schichtweiser Farbauftrag. Die diaphane Farbflächenstaffelung lässt immer wieder Arbeitspuren tieferer Schichten hervorschimmern. Diese Malweise führt zu kaum benennbaren Farbmischungen und Modulationen, die mittels ihrer partiellen Intensivierungen den Bildern einen leichten Rhythmus verleihen. Als schwingend, schwebend, man möchte sagen: schwerelos, kann ihre Wirkung beschrieben werden.

Otto Greis’ Konzeption einer „geistigen Farbe“ findet in dieser Werkphase ihren besonderen Ausdruck. Die Beobachtungen des Künstlers in Bezug auf Goyas „Freuden der Nacht“ sind für diese Thematik aufschlussreich. Bevor er 1973 zu einem Schiffstörn ins Mittelmeer aufbricht, formuliert er folgende Zeilen: „ Meine Begeisterung für San Florida hat aber noch eine andere Seite, da gibt es eine materielose Farbe, die frei schwebt, schwingt und atmet, mit der eine selbständige Zauberwelt gebaut ist. Eine vergeistigte Farbe, die ein eigenes Leben führt, ohne Bindung an das Sujet.(...) und erleben Sie, was die Farbe macht, ihre Rhythmik, ihre Entfaltung, ihren Gang zur höchsten Steigerung und wo sie dort dann ihren eigenen Ruf oder ihren Gesang aussendet. Hier beginnt die moderne Malerei (...), die Loslösung vom Sujet, die vergeistigte Farbe als bildnerisches Mittel an sich.4

Die Ordnung, die Transparenz und die Durchdringung der Farben bilden damit die Voraussetzung für dieses optische Phänomen der Immaterialität, dass für Otto Greis zugleich über die rein sinnliche Anschauung hinaus weist. „Der immaterielle Vortrag der Farbe“, erläutert er 1995 in einem Gespräch, „verweist auf eine Geistigkeit beziehungsweise auf etwas Immaterielles. Die Farbe erscheint durch die Farbordnung selber materielos. Man vergisst, daß es Farbe ist.“5

Diese spezielle Farbgestaltung lässt den Betrachter die künstlerische Idee von einer schwingenden bzw. „atmenden Bildoberfläche“, die nicht mit der Leinwand identisch ist, sinnlich erfahren.

Otto Greis’ Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte, die sein Leben lang anhält, führt ihn zu der Frage, worauf die Wirkkraft von Bildern unterschiedlicher Epochen beruht. „Nicht weil da ein Engel gemalt ist, berührt es uns, sondern ein bedeutsames Formereignis, verbunden mit einer geheimnisvollen Farbe, trifft uns6, konstatiert der Künstler 1973.

An der romanischen Malerei und Bauplastik Frankreichs verfolgen Otto und Margaret Greis die Gestaltungsprinzipien von Fläche und Form. Sein Fazit lautet: „Die genetische Form wurde mir in den Jahren 1959/60 bewußt durch die intensive Beschäftigung mit der romanischen Kunst in Frankreich.

Hier begriff ich das WESEN der Form, nämlich dass die Form immer Träger des Ereignisses sein sollte. Wenn z.B. in einem Relief in Autun die drei Könige schlafend liegen, so ist es die Form, die liegt und schläft, und somit drückt die Form ihr Wesen aus.7

Giottos Fresken beeindrucken den Künstler nachhaltig. Greis sieht in ihnen den Dualismus von Fläche und Raum dahingehend gelöst, dass Farbflächen zum konstituierenden Element des Farbraumes werden. Bereits 1960 betrachtet Greis „die Verwandlung eines haptischen Empfindens in ein optisches Phänomen8 als Aufgabe und zugleich Kernproblem der Malerei. Durch alle Schaffensphasen hindurch, die sich äußerlich sehr unterscheiden, verfolgt er diese Idee, für das haptische Empfinden eine farbige Sensation zu entwickeln. Greis formuliert: „In der Malerei ist die dritte Dimension oder das, was auf Raum verweist, eine Flächenquantität, dabei ist es gleich, ob es sich um Atmosphäre (denken Sie an die meisterhaften Durchblicke zwischen den Bäumen bei Watteau) oder um eine feste Form im Bilde handelt, beides sind Flächenquantitäten, die verankert sind im autonomen Gestaltungssystem und Bildgefüge, sonst entstehen ‚Löcher’ in der Bildebene.(...) Vor meinem Auge sehe ich die großartige bildräumliche Ordnung eines Poussin, die schwingenden Passagen eines Rubens oder Delacroix’, oder Cézannes Tektonik und viele mehr (...).9

Greis’ kunsttheoretische Betrachtungen und seine optischen Erlebnisse auf den Bootsreisen, lassen ihn in den 70er und 80er Jahren zu einem Bildaufbau finden, der von einer ganz eigenständigen Form- und Raumauffassung geprägt ist. Aufschlussreich sind folgende Bemerkungen des Künstler von 1982: „Die Passagen der Pläne, also die Übergänge, die das Auge unmerklich von einem Plan innerhalb des Bildraumes zum anderen wandern lassen. Für mich haben diese Passagen besondere Bedeutung, Passagen, die durch die Organisation auf der Bildfläche alle Formteile zu einem einheitlichen Formereignis, zu einer Bildform zusammenschließen. Weiterhin sind wesentlich die Bildtiefen, die wie in die Fläche eingetriebene Fugen erscheinen, Schlüsselpunkte, von denen die Funktion eines ‚Anrufes’ ausgeht: Das Bestimmte ruft nach dem Unbestimmten und umgekehrt. Der Reichtum der Variationen dieser Fugen in ihrer Vielgestalt überläßt mich einer Formbildung etwa analog dem Wachsen in der Natur, in der ja Form und Wesen eins sind. Ein gewisses Nacherschaffen der treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen, eine Kunstnatur parallel zur Natur, die uns umgibt. Hier liegt für mich der ‚gestalterische’ Ansatzpunkt wie ein strenger Kanon zu meiner abstrakten Malerei.(...) Form als Anruf (...), Form, die uns erst bewusst wird, indem wir ihr Entstehen auch in uns nachvollzogen und somit aufgenommen haben.“10

Wie kann das Wesen der subtilen Formmodulationen in Greis’ Bildern, die sich aus einer entsprechenden Farbbehandlung ergeben, definiert werden?

Die Zurückführung von Formen auf bloße Andeutungen von Formen, auf nicht genau differenzierbare Formmodule, ruft den Eindruck eines fortwährenden gestalterischen Prozesses hervor. Greis lässt Bildformen entstehen, die sich im „Werden“ oder „Vergehen“ befinden. Dies entspricht einer „genetischen Formbildung11, wie sie der Künstler 1974 definiert hat.

Die geradezu synthetische Beziehung der Bildelemente untereinander, entspricht der künstlerischen Intention, mit der farbgebundenen Form- und Raumgestaltung auch die Lichtqualität der Bilder herauszuarbeiten. Otto Greis: „Um mein ‚Imago’ von Licht zu realisieren, brauche ich die Form, sie fängt es ein, an ihr wird das Licht ebenso Formteil wie sie selbst, es wird zu einem Strukturelement, ich bekomme das Licht sozusagen in den Griff.“12

Die „flüchtigen“ Lichträume kennzeichnet eine „Unabschließbarkeit der Farb-Relationen13. Daraus entwickelt sich eine dynamische Raum- und Lichtstruktur, die als unendliches Kontinuum wahrnehmbar ist. In diesem Sinne dürfen die Werke ab 1970 als Metamorphosen des Lichts interpretiert werden, als bildliche Äquivalente zu einer in immerwährender Entwicklung und Verwandlung begriffenen Natur.


















1 Christa v. Helmholt, Sieg der Kunst über die Widrigkeiten des Alltags, Wo die Maler der `Quadriga’ geblieben sind (I) – Atelierbesuch bei Otto Greis, FAZ, 10.8.1982

2 Brief von Otto Greis an René Drouin, 1974, zit. n.: Kat. Otto Greis. Retrospektive zum 75. Geburtstag, Landesmuseum Mainz 1989, S.13

3 Brief von Otto Greis an Ulla Siegert, Alcudia de Guadix, 1.11.1995, zit. n.: Ulla Siegert, Otto Greis. Farbe – Form – Licht. Werkverzeichnis der Gemälde 1945 – 1995, Schriften zur Kulturwissenschaft, Bd. 26, Hamburg 1999

4 Brief von Otto Greis an die Malinche-Crew, La Frette sur Seine, 9.5.1973, zit. n.: Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd.4), Aachen 2002, S.31

5 Gespräch Otto Greis/Ulla Siegert, 27.2.1995, ebd., S.32

6 vgl. Anm. 4, ebd., S.31

7 Brief von Otto Greis an René Drouin, La Frette sur Seine, 19.11.1974, ebd., S.34

8 Brief von Otto Greis an Karl-Heinz Gabler, 23.10.1960, zit.n. Kat. Otto Greis. Retrospektive zum 75. Geburtstag, a.a.O., S.8

9 Brief von Otto Greis an Ulla Siegert, 25.12.1995, ebd., S.37


10 Brief von Otto Greis, La Frette sur Seine, Dezember 1982, zit. n.: Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie, a.a.O., S.48

11 vgl. Anm. 7

12 Brief von Otto Greis an René Drouin, vgl. Anm.7

13 Holger Broeker, Farbraum und Bildzeit. Zur Bildkonzeption der Stilleben Jean Siméon Chardins, in: Idea, Werke-Theorien-Dokumente, Jahrbuch d. Hamburger Kunsthalle, Bd.X, Hamburg 1991, S.106

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1986 - 1998

Ende der 80er Jahre vollzieht sich im Werk von Otto Greis ein erneuerter künstlerischer Umschwung. Vorbereitet wird die überraschend andere Ausdrucksweise durch eine Vielzahl von Bildern, die der Künstler „Alhamilla-Serie“ nennt und an denen er seit 1987 arbeitet. Mit „Polópos“, 1988/89, und „Spuren des Sommers“,1989, zeigt sich im großen Format eine Gestaltungsweise, die deutlich akzentuierte Formen herausbildet und sich damit von den, wie verschliffen wirkenden Bildräumen seiner vorherigen Schaffensphase absetzt. In der Einfachheit der Kompositionen liegt ihre Klarheit begründet. Was sich in dem Bild „Rideau d’Iris“ von 1984 bereits schemenhaft als vertikale Farbverläufe bestimmen lässt, wird nun vom Künstler zu parallelen Farbbahnen gebündelt, die diagonal das Bildgeschehen dynamisieren. Kreisformen, die in späteren Werken zu einer einzigen großen Rundform kulminieren, stehen zu den Geraden in einem eindrucksvollen Spannungsverhältnis. Otto Greis fordert in seinem Spätwerk diesen Antagonismus bewusst heraus, um ihn sogleich zu harmonisieren. Dieser Ausgleich gelingt, indem der Künstler die Formen öffnet und fließende Übergänge schafft. Mittels subtiler Farbmodulationen wird die Gefahr eines starren Konstrukts vermieden. Der eingangs gewählte Begriff der Einfachheit - im positiven Sinne verstanden - darf in zweierlei Beziehung für die Betrachtung des Spätwerks herangezogen werden. Einmal erweckt die großzügig angelegte Komposition diesen Eindruck. Des weiteren sind die parallelen Farbbahnen als das „wiederkehrende Gleiche1 für den Betrachter leicht zu überschauen. Gemeinsam mit den raumgreifenden Kreisschwüngen gliedern sie die Bildfläche rhythmisch. Otto Greis gestaltet ganz aus der Farbe heraus und keine Linie unterbricht ihre spezifische Wandelbarkeit, aus der sich Formen und Bildräumlichkeiten erschließen. Auf diese Weise gelingt ihm die „Darstellung des Allerverschiedensten als etwas, was trotzdem eines ist2, wie „Einfachheit“ im kunsthistorischen Sinn von Kurt Badt definiert wird. Philosophische Bezugspunkte lassen sich bei Heraklit finden. Etwa:„dass Gegensätze immer wieder ineinander umschlagen3. Diese Naturbeobachtungen zur Umwandlung von Gegensätzen, verstanden als ewiger Kreislauf, münden für Heraklit in der These „alles ist eins4. Im Spätwerk von Otto Greis manifestiert sich beispielhaft eine Weltsicht, die mit philosophischen Ideen dieser Art korrespondiert. Auf gestalterische Aspekte übertragen, formuliert Greis 1995: „Das ganze Bild besteht aus Gegensätzen: Farbe, Form, Licht. Es geht um den Vorgang der Verwandlung der einzelnen Elemente. Dadurch ist der Künstler gezwungen nach Gestaltungsmöglichkeiten zu suchen; z.B. Farbe in Licht zu verwandeln.“5

Im Hinblick auf eine innerbildliche Geschlossenheit spürt Greis dem Prinzip der Verwandlung nach, das er als eine allgemeine Gesetzmäßigkeit des Lebens begreift.

Helligkeit beherrscht das Bildgeschehen. Otto Greis, der auch als Maler des Lichts bezeichnet wird, entscheidet sich in dieser Werkreihe, die etwa bis 1995 andauert, für das Weiß als farblose Lichthelligkeit. Es bildet den harmonisierenden Grundton, auf den sich alle Farben beziehen. „Das Weiß entlässt aus sich das Relief der Buntfarben. Unmöglich deren Nuancen zu beschreiben6, charakterisiert Lorenz Dittmann 1993 die Farbgestaltung von Bildern, wie z.B. „Spuren des Sommers“, 1989, „Windkamm“, 1990, oder „Fest der Winde“, 1992. Auch auf farblicher Ebene entsteht auf diese Weise ein Eindruck von Einfachheit. „Denn im Grunde gibt es keine Farbe ohne Bewegung zur nächsten, und diese Eigenschaft benutzt man, wenn man im Bilde durch farbige Verbindung Einfachheit erstrebt“7, erläutert Kurt Badt. Die subtilen Farbmodulationen tragen nicht nur zu dieser Wirkung bei, sondern bilden die Grundlage für die farbige und formale Einheit im Bild. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis von Greis’ Bildwelten. Es geht ihm nicht um eine Einfachheit, gleichbedeutend mit leichter Lesbarkeit, sondern im Sinne einer Synthese, in der die Bildmittel Farbe, Form, Raum und Licht aufgehen. Otto Greis: „Es ist das Zusammenführen von drei Grundkomponenten: die Farbe, die Form und das Licht, wobei es sich dabei um drei Extreme handelt! Die Farbe benötigt die Fläche, um sich zu entfalten, die Form das Licht, um in Erscheinung treten zu können. Es kann immer einmal etwas überwiegen, mehr die Form, das Licht oder die Farbe, das ist gegeben. Aber sich diesem Spannungsverhältnis anzunähern, damit dieses überhaupt entsteht, das ist ein ganz schönes Unterfangen.8

Eine Harmonisierung, ein Ausgleich, der quasi die Gegensätzlichkeiten in Balance zu halten vermag, entspricht seinem künstlerischen Ziel einer autonomen Bildkomposition. Was als ein „egozentrisches Unterfangen9 beginnt, nämlich die ganz persönliche Auseinandersetzung des Künstlers mit der Leinwand, führt so, handwerklich betrachtet, zu einem innerbildlichen Bezugsystem der Bildmittel und damit zu einer Geschlossenheit. Für Otto Greis beruht somit die Ausdruckskraft der Arbeit wesentlich auf einer gelungenen Ablösung von der Künstlerpersönlichkeit. In seiner Malerei zielt er auf eine geistige Dimension, die einen Bezug zum Betrachter herzustellen vermag, der über die sinnliche Wahrnehmung hinausgeht. Der Künstler verdeutlicht: „Für mich vollzieht sich das Bild auf einer imaginären Ebene. Die Leinwand ist Material. Es geht ja nicht darum, Farbe auf die Leinwand zu setzen, sondern es geht darum, die Leinwand ‚abzuschütteln’. Das Bild muß als Erscheinung aufsteigen, vollkommen befreit von dieser Materie. Das ist die hohe Kunst der Malerei.10

Greis’ Bilder bleiben ikonographischen Deutungen gegenüber verschlossen. Auch das Wissen um seine Aufenthalte in der Sierra Nevada seit 1985, können allenfalls eine Vorstellung davon vermitteln, welche Natureindrücke ihn in seinen Bildgestaltungen angeregt haben mögen. In einem Brief von 1992 spricht Otto Greis dieses Thema an: „ Es sind jetzt sieben Jahre, dass ich jährlich für einige Monate in die Wüstenlandschaft nach Südspanien gehe. Eine Landschaft, die sehr strukturiert und reduziert ist auf letztmögliche Äußerungen von Leben, die hier einen nicht auswechselbaren Platz erhalten. Kargheit umschlossen von Licht, eingehüllt in Glanz. Die Bilder dieser Jahre sind von solchen Eindrücken geprägt.“11

In rhythmisch-schwingender Harmonie figurieren die Bilder eine Wirklichkeit, die in ihrer Hermetik frei von gesellschaftlichen oder politischen Bezügen ist. In dieser Hinsicht können sie auch als Gegenbilder zur ruhelosen Gegenwart aufgefasst werden.



1 Kurt Badt, Einfachheit in der Malerei, in: Ders., Kunsttheoretische Versuche, hrsg. von Lorenz Dittmann, Köln 1968, S.19

2 a.a.O., S.12

3 Wilhelm Weischedel, Die Philosophische Hintertreppe, München 1994, S.27

4 ebd., S.27

5 unveröfftl. Gespräch Otto Greis/Ulla Siegert, 27.2.1995

6 Lorenz Dittmann, Die neuen Bilder von Otto Greis: Licht – Farbe – Rhythmus, in: Kat. Galerie Katrin Rabus, 1993, o.Pag.


7 Kurt Badt, Einfachheit in der Malerei, a.a.O., S.12

8 Gespräch Otto Greis/Barbara Auer, Kat. Otto Greis, Kunstverein Ludwigshafen am Rhein e.V., 1996, S.13

9 a.a.O., S.15

10 a.a.O., S.12

11 Lorenz Dittmann, Die neuen Bilder von Otto Greis, a.a.O., o.Pag.

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1998 - 2001

Otto Greis erarbeitet 1998 drei große Bildtafeln. Sie tragen die poetisch gestimmten und von der griechischen Mythologie inspirierten Titel: „Daphnes Geäst“, „Helios Wagen“ und „Auroras Lorbeer“ (vormals: „Gespaltene Auen“). Beeindruckend ist ihr leuchtendes Farbenspiel, dass von einem Grün-Blau-Kontrast beherrscht wird. In dem Werk „Daphnes Geäst“ lässt der Künstler deutlich die einzelnen Pinselspuren stehen. Ihre unruhige Verteilung forciert den Eindruck von vibrierendem Rhythmus und Spannung. Bewegung und Form bilden einen außerordentlichen Antagonismus. Virtuos gelingt Greis eine Harmonisierung, indem er den Farbfleck an die Fläche bindet und das lebhafte Farbenspiel mit Hilfe von Weiß-, Ocker- und Braunmischungen partiell beruhigt. Das Bild „Lorbeer für Aurora“ ist weicher gestimmt. Die Bewegungssuggestion von herabströmenden Farbformen ist beibehalten, allerdings mittels einer subtileren Farbchromatik moduliert. In diffuser Leichtigkeit klingen Formen an, oder verflüchtigen sich wieder in dimensionslose Farbräume.

In dem Buch: „Aufbruch in eine neue Bildwirklichkeit“, das Otto Greis 1999, gemeinsam mit Margaret Bolza-Greis, zusammenstellt, ist dem genannten Werk folgendes Zitat beigeordnet: „Es vollendet sich in einem Bilde der lange Weg einer Verwandlung. Unbekanntes, die Leere, wird angerufen und mit in den Bereich der Wahrnehmung, des Sichtbaren, einbezogen. Wandlung und Umwandlung sind in ständigem Vergehen und Finden eines Ereignisses, das mit seinem Anruf über das Formgeschehen hinausweist – und letzten Endes ist das die eigentliche Aussage eines Bildes.“1

Die Sätze verdeutlichen, welchen Wert Greis auf den bildnerischen Prozess legt, und das für ihn ein Bild nicht als Projektionsebene für bereits gefasste Vorstellungen dient. Erst in einem konzentrierten Dialog zwischen Maler und Leinwand entwickeln sich Formen, die sich im Verlauf der Arbeit auch immer wieder verändern. Während des Malens möchte Greis zu Formen finden, die einem tief in ihm verwurzelten Gestaltrepertoir entstammen. Es geht ihm um eine Annäherung an seine Imago. Als Archetyp von Form soll sie, laut Greis, die Gestaltung lenken. Diesen Anspruch einer geistigen Anteilnahme am Werk, einer Konkretion unbewusster Affinitäten, stellt Greis an sich und seine Kunst seit seiner Beschäftigung in den 40er Jahren mit der Malerei Paul Klees.

Greis’ malerisches Lebenswerk schließt mit drei Bildern, die vom Dezember 2000 bis zum Februar 2001 entstehen. Sein plötzlicher Tod im März 2001 hindert ihn daran die Werke zu betiteln. Ihre Gestaltung zeigt sich erstaunlich unabhängig von den vorangegangenen Arbeiten. Die „lichthelle“ Ausstrahlung ist ganz den Himmelsfarben von Weiß, Grau, Blau über Rosé verschrieben. Mit der zunehmenden Formauflösung geht eine scheinbare Entstofflichung der Farbe einher. Allen drei Bildern haftet – vielleicht durch die Fernwirkung der Blauvariationen hervorgerufen – der Eindruck einer zunehmenden Verflüchtigung an.

Abschließend seien Greis’ Gedanken zum „Farbbildraum“, die sich wie eine Beschreibung seiner letzten Bilder lesen, angefügt: „Die verschiedenen Tiefenwirkungen der Farben auf der Leinwand sollen sich durch die Passagen zu einer imaginären Ebene zusammenschließen: Dies ist die eigentliche ‚geistige’ Bildebene (...). Die Leinwand als solche verliert vollkommen ihre Bedeutung (sie wird quasi abgeschüttelt!), es entsteht eine schwebende und atmende Bildebene, entmaterialisiert und transzendent.“2

1 Otto Greis, Aufbruch in eine neue Bildwirklichkeit, mit Beiträgen von Werner Haftmann, Lorenz Dittmann, Christa Lichtenstern, Ulla Siegert, München 2000, S.142

2 Otto Greis, September 1998, zit. n. Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd. 4), Aachen 2002, S.47


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Alhamilla Serie

<h4>1987 - 1990</h4>

Sie wollen wissen, wie sich diese Form entwickelt hat. Sie kommt von diesem Thema, von dieser Landschaft in Andalusien. Durch Erosion von Sand und Gestein entsteht eine Wüstenformation mit diesen runden Gebilden. Aus dieser Rundform der Berge habe ich das Thema entwickelt. Wenn Sie so wollen, entstand diese Form aus einem geologischen Thema. Als ich in diese Serie einstieg, wurde mit der Zeit beim Arbeiten diese runde Form immer größer. Auf diese Weise entwickelt sich ein Bildthema. Das Bild kommt immer aus dem Bilde, d.h. es entwickelt sich immer aus den vorhergehenden Bildern. Es ist immer eine Folge. Ich dringe immer weiter ein, weil ich bestrebt bin immer noch größere Ausspannungen noch größere Harmonien zu erzeugen.“1 Erläutert Otto Greis 1996 und beschreibt damit, weshalb er sich 1987 formal neu orientiert und mit der kleinformatigen „Alhamilla“-Serie beginnt. Diese Werke bilden den Auftakt zu den groß angelegten Kompositionen, die Greis ab 1988/89 erarbeitet und die eine gänzlich andere Formensprache zeigen, als die schleierhaft gestuften Bildräume bis etwa zur Mitte der 80er Jahre. „Rideau d´Iris“ entsteht 1984 als letztes Bild dieser Schaffensphase in La Frette sur Seine; noch bis 1987 entwickelt der Künstler, bereits nach Ockenheim umgezogen, Bilder mit diesem Formvokabular weiter.

Seit 1985 zieht es Otto Greis in die Wüstenlandschaft der Sierra Nevada. In dem abgelegenen Dorf Alcudia de Guadix lebt und arbeitet er für jeweils drei Monate im Frühjahr und Herbst. Sehr klar werden nun die Formen auf der Leinwand gebildet. Eine künstlerische Schwierigkeit besteht darin, trotz ihrer Konkretion, sie nicht als abgeschlossenes Element herauszuarbeiten, sondern immer eine Offenheit und damit eine Verbindung zum Gesamtgeschehen zu gewährleisten. Die Idee einen in sich geschlossenen „Bildraumkörper“ zu gestalten, in dem alle Farben und Formen miteinander in Korrelation stehen, gilt nach wie vor als malerische Prämisse des Künstlers.

Sein intensives Erlebnis der Landschaft, „die sehr strukturiert und reduziert ist auf letztmögliche Äußerungen von Leben, die hier einen nicht auswechselbaren Platz erhalten2, wie Greis beschreibt, scheint sich in einer auf den ersten Blick vergleichbar spröden und weniger sinnlichen Bildsprache zu äußern. Die Reduktion der Formen, etwa auf die eingangs erwähnte Kreisform, oder die geradlinigen Farbbahnen, führt zu einer Deutung als „Urformen“ im platonischen Sinne.

Der Punkt als Element des Ausdrucks ist in gewissem Sinne identisch mit dem Kreis. Beide sind unstatisch und schwingen in sich, beide stehen am Anfang jeder Formbildung“, erläutert Willi Baumeister 1958 in seinem Buch „Das Unbekannte in der Kunst“.3 Die „Alhamilla“-Serie zeigt keine vollständigen Kreise und auf diese Weise wird umso mehr der Eindruck des Wachsens und sich Wandelns, des Entstehens und auch Vergehens geweckt. Paul Klees Absicht, nicht bloß „Form-Enden“ bildnerisch zu veranschaulichen, sondern zum „Urbildlichen“ vordringen zu wollen, ist für Otto Greis bereits seit Ende der 40er Jahre interessant und trägt zur Vertiefung dieser Werkbetrachtung bei.4 Im „Urgrund“ kann der Künstler, laut Klee, die Grundstrukturen, den „geheimen Schlüssel“ entdecken, aus dem sich die Natur in unendlichen Variationen entfaltet.5 Die Formengestaltung in der „Alhamilla“-Serie als auch in den darauffolgenden großformatigen Werken, führt in diesem Vorstellungskontext zu einer Deutung derselben als Grundformen, aus denen sich wiederum neue Formationen entwickeln können. Diese Interpretation lenkt auf einen Kernpunkt der Greis’schen Kunstauffassung: sein morphologisches Kunstverständnis, hin. In den kleinformatigen Bilderserien seines Oeuvres manifestieren sich diese Ideen besonders eindringlich. Greis fasst die „Formbildung“ im Kunstwerk „etwa analog dem Wachsen in der Natur6 auf, und in Anlehnung an Cézannes künstlerischem Bemühen um eine „Harmonie parallel zur Natur“, spricht er von einer „Kunstnatur parallel zur Natur“.7 Das Bild, verstanden als ein Organismus, „wächst“. Die Bildmittel: Farbe, Form, Raum und Licht setzt der Künstler entsprechend zusammenhangbildend, d.h. organisch, ein. Seit Otto Greis im Informel die Entdeckung gemacht hat, wie „fruchtbar“ sich der Zufall im bildnerischen Prozess auswirken kann, gewinnt die „genetische“ Formbildung in seinem Werk zunehmend an Bedeutung. In der spezifischen Ausarbeitung jedes einzelnen „Alhamilla“-Bildes, aber auch im seriellen Charakter dieser Werkreihe, lässt sich seine metamorphe Formauffassung - inspiriert sicherlich auch von Goethes Anspruch die Gestaltlehre auch als eine Verwandlungslehre zu begreifen - leicht nachvollziehen.

Die kleinformatigen, sich variierenden „Alhamilla“-Werke bilden das künstlerische Analogon zu dem Prinzip einer sich fortwährend wandelnden Natur.



1 Interview Otto Greis/Barbara Auer, 1996, Kat. Otto Greis, Kunstverein Ludwigshafen, 1996, S.14

2 Brief von Otto Greis an Lorenz Dittmann, 1992, Kat. Otto Greis, Galerie Katrin Rabus, Bremen, 1993, o.Pag.

3 Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, 2.Aufl., Köln 1960, S.95

4 Paul Klee, Über die moderne Kunst, Bern-Bümplitz 1945, S.47

5ebd., S.47

6 Brief von Otto Greis, La Frette sur Seine, Dezember 1982, zit.n. Kat. Landesmuseum Mainz, Otto Greis, Retrospektive zum 75.Geburtstag, 1989, S.14

7ebda., S.14

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Atalayar Serie

<h4>1978 - 1986</h4>

Das „Atalayar“-Gebirge, nördlich von Almeria, gibt der Bilderfolge, die 1978 beginnt und in Abständen bis 1986 fortgeführt wird, ihren Namen. Im kleinen Format von etwa 40 x 50 cm entwirft Otto Greis vielfach hinterfangene Lichträume, deren Farbigkeit von einer warmen, erdigen Chromatik bis zur kühler gestimmten blau-roten Seite der Farbskala variiert. Charakteristisch ist, wie in den großen Leinwandbildern dieser Jahre auch, ein Bildaufbau aus annähernd transparenten Farbschichten. Ein Eindruck von lichtdurchwirkten Schleiern, die in ihrer Staffelung Farbintensivierungen und eine damit verbundene diffuse Räumlichkeit bilden, entsteht. In einem Brief an Werner Haftmann erklärt Otto Greis zum symbiotischen Verhältnis von Farbe, Form, Raum und Licht in seiner Malerei: „Licht im Bilde ist für mich nicht das Leuchten oder Aufleuchten einer Farbe oder Partie, sondern es ist als Bildelement an der Gestaltung mitbeteiligt, durchstrahlt die Farbe, die dadurch ihre materielle Substanz, was sie ja ist, verliert und sich mehr dem Zustand des materielosen Schwebens nähert – (...), das ist zunächst ganz technisch gesehen.(...) Ich ‚denke’ in plastischen Massen, durch die Modulationen gebildet, die sich dem Beschauer entgegen bewegen als würde das Licht von innen her drücken, Massen, die sich immer wieder mit der Fläche verknoten. Die Malerei führt also ihr geheimes Leben in jenem Bereich, wo sie die Fläche zu verlassen beginnt und ihr wieder einverleibt wird.

So ist auch der Begriff Form nie eine begrenzte Form, sondern immer etwas, das sich im Anschauen ständig bildet, ohne Unterlaß.1

Den naturwissenschaftlich-philosophischen Hintergrund für Greis’ metamorphotische Formauffassung bilden Goethes botanische Studien. Die Farbmodulationen in ihrer Steigerung und ihrer Abschwächung gliedern die Kompositionen. Im optischen Erfassen der rhythmisch geordneten Bildgestaltungen, entwickeln sich Form und Raum. Otto Greis spricht anfang der 70er Jahre von einer „genetischen Formbildung (...) im Goethischen Sinne“2. Seine Kunstwerke korrespondieren mit einer prozessualen Grundregel der Metamorphosenlehre, die Goethe als ein Wechselspiel von Ausdehnung und Zusammenziehung als Basis allen Wachstums bestimmt. In der „Atalayar“-Serie als auch generell in den Werken der 70er und 80er Jahre, klingt daher, mit dem ins Bildnerische umgesetzte Prinzip von Intension und Degression, das Thema von Gestaltbildung und Verwandlung an.

Die Bilderfolge verdeutlicht außerdem, dass die künstlerische Idee der Metamorphose über das einzelne Werk hinaus reicht. Otto Greis findet im variablen Formpotential seiner Arbeiten immer wieder Aspekte, die ihm als Ansatzpunkte für das nachfolgende Bild dienen. Die Kompositionen besitzen einen durchaus „transitorischen“ Charakter, der die Phantasie des Betrachters dahingehend anregt, Rückschlüsse auf das vorangegangene Bild zu ziehen, bzw. Formen weiter zu entwickeln. Der offenen Gestaltung entsprechend, liegt in jedem Bild bereits das Zukünftige verborgen. Der Künstler erklärt dazu: „Der kleinste Teil muß das Ganze enthalten. Aber wenn man aus einem Teil wieder ein neues Bild macht, so genügt es nicht, diesen einfach auszudehnen. Es muß eine ganz neue Organisation entstehen, die mit neuen Keimzellen erfüllt ist.3

Greis’ Wortwahl fokussiert einmal mehr auf seine Definition des Kunstwerks als einen eigenständigen Organismus. Seine Entfaltung beruht, nach Ansicht des Künstlers, auf einer Durchdringung der Bildelemente Farbe, Form, Raum und Licht. Ganz aus der Farbe und ihrer Modulationen, entwickelt er eine kaum weiter zu treibende bildnerische Dichte. Otto Greis stellt sich bewusst in die Tradition einer malerischen Malerei, die mit Renoir, Corot und Cézanne für ihn Vorbildcharakter besitzt. Das Malerische der „Atalayar“-Serie führt überdies zu dem Eindruck einer immerwährenden Bewegung, da „alles sich in jedem Punkt und Parameter erneuert,(...), da zumindest ein relativer Ruhepunkt fehlt, an dem der Unterschied zwischen Bewegung und Stillstand messbar würde.“ 4

Malerei zeigt sich versinnbildlicht und optisch erfahrbar.

Der „dynamische Unendlichkeitscharakter“ der einzelnen Arbeiten und der Werkfolge insgesamt, korrespondiert auf diese Weise erneut mit Goethes Beobachtungen zur „Metamorphose der Pflanzen“, die der Dichter als einen infiniten Prozess beschreibt.

Greis’ malerische Malerei, „in der die Linie keine Existenz mehr hat“5, wird zum Ausdrucksträger lyrisch gestimmter Bildwelten. Seine Poesie ist untrennbar mit der Farbgestaltung verbunden. Er erläutert diesbezüglich: „Die Farbe transzendiert ihre Materie und wächst in das Gebiet der ein- und vieldeutigen Gestalt und wird selbst Poesie.“ 6

In den Farbtiefen und –höhen, die harmonisch das Bild gliedern, „hat das Orphische (...) seinen Raum, durch die nicht endgültig flächenhaft fixierbaren Farben, die schwebende Tiefenschwingungen angeben, die gleichzeitig eingehängt sind in das rhythmische Gefüge.“7 Formuliert Otto Greis 1958 und bezieht sich expressis verbis auf den von Guillaume Apollinaire in Bezug auf Delaunays „Fenster-Bilder“ entwickelten Terminus des Orphismus. Die spezifische Ausstrahlung dieser Werke, die sich auf Licht, Farbe und Rhythmus gründet, hat den Dichter zu dieser Begriffsbildung inspiriert. Damit wählt Greis einen Ausdruck, der die Aufmerksamkeit direkt auf die hervorstechenden Charakteristika auch seiner Bildgestaltungen lenkt. Sowohl Delaunay als auch Greis widmen sich dem Licht als bildbeherrschendem Thema. Für den Franzosen ist dieses Sujet mit einer erweiterten Interpretation als „mouvement vital du monde“ hinterlegt.8 In seiner farbigen Repräsentation beinhaltet das Licht für beide Künstler eine poetische Qualität.

Allerdings ist Greis, wie vor ihm bereits Delaunay, nur an einer Form der Poesie interessiert, die allein aus den malerischen Mitteln hervorgeht. Otto Greis erklärt: „Die Poesie in der Malerei ist nicht ablesbar, sie ist ein Zustand, frei von jeglicher Literatur.9

Die „Atalayar“-Serie, deren Gestaltung dem Zusammenklang der Bildelemente verpflichtet - und zugleich mit der Weltanschauung des Künstlers untrennbar verbunden ist, kann als Ausdruck einer „Poesie pure“ im Sinne Apollinaires betrachtet werden.10






1 Brief von Otto Greis an Werner Haftmann, La Frette sur Seine, 7.12.1977, zit.n. Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd.4), Aachen 2002, S.37f

2 Otto Greis, Zu meiner Malerei, La Frette sur Seine, Nov. 1977, zit.n.: ebd. S.58

3 Otto Greis, o.J., ebd., S.58

4 Kern, Hermann, Zeit-Bilder. Zur Bedeutung von Bewegung in der Malerei des 20. Jhrds, in: Neue Malerei in Deutschland, hrsg. J. Harten/D. Honisch/H. Kern, München 1983, S.44

5 Brief von Otto Greis an K.H. Gabler, 1960, zit.n. Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit, a.a.O., S.26

6 Otto Greis, 1958, zit.n. Kat. Otto Greis. Retrospektive zum 75. Geburtstag, Landesmuseum Mainz, 1989, S.8

7 ebd., S.8

8 Werner Hofmann, Zu einem Bild Robert Delaunays, in: Bruchlinien. Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München 1979, S.110

9 Otto Greis, o.J., ebd., S.54

10 Guillaume Apollinaire, Die Maler des Kubismus, Genf 1950, zit.n. Hajo Düchting (Hrsg.), Robert Delaunay. Zur Malerei der reinen Farbe. Schriften von 1912 – 1940, München 1983, S.84

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Die Malerei ist ein unerhört geistiges Abenteuer.

Für mich vollzieht sich das Bild auf einer imaginären Ebene. Die Leinwand ist Material. Es geht ja nicht darum, Farbe auf die Leinwand zu setzen, sondern es geht darum, die Leinwand ‚abzuschütteln’. Das Bild muss als Erscheinung aufsteigen, vollkommen befreit von dieser Materie. Das ist die hohe Kunst der Malerei, und dieser Punkt hat mich fasziniert. Wie weit ich damit komme, ist eine andere Sache. Aber das ist der Motor. Die Farben bewegen sich in eine Richtung. Man muss sie in eine Organisation bringen. Es entsteht ein Körper von einer relativen Dicke, diese Dicke ist optisch zu verstehen, nicht faktisch. Man muss nun diesen Raum organisieren, und damit meine ich, dass ein Körpergebilde geschaffen wird, welches haptisch, taktil ist. Ein Grundphänomen der Malerei ist immer, die Verwandlung eines taktilen oder haptischen Empfindens in eine optische Sensation. Man muss also für das Räumliche etwas erfinden, dass sich in Farbe ausdrückt und zwar nicht durch Illusion, sondern allein durch die Farbe. Das sind die Grundprobleme in der Malerei, und das ist auch das, was ich Tradition der Malerei nenne. Wenn Sie den ganzen Fortgang in der Geschichte der Malerei beobachten, treffen Sie immer wieder auf dieses Phänomen.(...)

Es geht mir nicht darum, etwas zu produzieren. Das ist ganz unwichtig für mich. Im Grunde könnte man sagen, ein Bild ist der Vollzug eines bestimmten geistigen Prozesses. Die Malerei ist ein unerhört geistiges Abenteuer.“

(Otto Greis,1996)

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