Anfang der 70er Jahre
beginnt Otto Greis, nach zahlreichen Studien in Bleistift und
Aquarell, in seinen Leinwandbildern eine neue Farbe- und
Formensprache zu entwickeln. Ausschlaggebend mag dafür eine
Veränderung seiner Lebens- und Arbeitsituation gewesen sein. Er
kauft sich 1969 einen Motorsegler und befährt gemeinsam mit
seiner Frau Margaret Bolza-Greis das Mittelmeer. Christa von Helmholt
entwirft einen anschaulichen Eindruck von den Bootsreisen des
Künstlerpaares: „Und jeden Sommer leben Otto und
Margret Greis auf ihrem Hausboot auf dem Mittelmeer. Puerto Andraitx
auf Mallorca und Alicante an der spanischen Küste sind dann für
sechs Monate ihre Heimathäfen. Von da aus fahren sie hinaus aufs
Meer, Piraten, die nach den Sensationen des Lichts jagen.“
Die Farbpalette des
Künstlers wird hell und licht. Die Grau-, Braun- und Grüntöne
der vorangegangenen Jahre sind in den neuen Kompositionen nicht mehr
zu finden. Auf diesen deutlichen Farbwechsel angesprochen, erläutert
Otto Greis 1974: „Die Mittelmeerlandschaft und die damit
verbundenen optischen Erlebnisse, haben bei mir eine
Licht-Farbkonzeption zur Reife gebracht, die schon vorhanden war und
in der Île de France entstanden ist. Vorbereitet wurde sie
durch Reisen nach Italien zu den Werken von Piero della Francesca,
Antonello da Messina und Bellini, in den Jahren 1961 und ‘62.
Durch das südliche Meer entdeckte ich also etwas für mich
auf meine Weise neu, was schließlich schon vorgebildet war. Ich
fand meine Welt, meine Vision, irgendwann treffen wir auf unser Bild,
ich möchte dies die Begegnung mit der Imago nennen.“
Der Brief verdeutlicht,
dass die äußeren Gegebenheiten auf die Bildgestaltung
stimulierend wirken, entscheidend aber die Sensibilität des
Künstlers ist.
Die gebrochenen
Farbtonvariationen von Gelb, Hellblau, Rosé und Violett, die
die Farbgestaltung seiner Werke bis etwa 1987 bestimmen, hat Greis
seit Anfang der 60er Jahre durch sein Studium der italienischen
Renaissancemalerei, „ein auf uns gekommenes großartiges
Erbe der Verzauberung“,
wie er erklärt, verinnerlicht. Für den Künstler ist es
daher keine konzeptuelle Entscheidung Farben mit Lichtcharakter zu
wählen, sondern es entspricht seiner tiefen Affinität für
das Licht mit seinen farbigen Phänomenen.
Charakteristisch für
die Arbeiten dieser Werkphase ist ein äußert feiner und
schichtweiser Farbauftrag. Die diaphane Farbflächenstaffelung
lässt immer wieder Arbeitspuren tieferer Schichten
hervorschimmern. Diese Malweise führt zu kaum benennbaren
Farbmischungen und Modulationen, die mittels ihrer partiellen
Intensivierungen den Bildern einen leichten Rhythmus verleihen. Als
schwingend, schwebend, man möchte sagen: schwerelos, kann ihre
Wirkung beschrieben werden.
Otto Greis’
Konzeption einer „geistigen Farbe“ findet in
dieser Werkphase ihren besonderen Ausdruck. Die Beobachtungen des
Künstlers in Bezug auf Goyas „Freuden der Nacht“
sind für diese Thematik aufschlussreich. Bevor er 1973 zu einem
Schiffstörn ins Mittelmeer aufbricht, formuliert er folgende
Zeilen: „ Meine Begeisterung für San Florida hat aber
noch eine andere Seite, da gibt es eine materielose Farbe, die frei
schwebt, schwingt und atmet, mit der eine selbständige
Zauberwelt gebaut ist. Eine vergeistigte Farbe, die ein eigenes Leben
führt, ohne Bindung an das Sujet.(...) und erleben Sie, was die
Farbe macht, ihre Rhythmik, ihre Entfaltung, ihren Gang zur höchsten
Steigerung und wo sie dort dann ihren eigenen Ruf oder ihren
Gesang aussendet. Hier beginnt die moderne Malerei (...), die
Loslösung vom Sujet, die vergeistigte Farbe als bildnerisches
Mittel an sich.“
Die Ordnung, die
Transparenz und die Durchdringung der Farben bilden damit die
Voraussetzung für dieses optische Phänomen der
Immaterialität, dass für Otto Greis zugleich über die
rein sinnliche Anschauung hinaus weist. „Der immaterielle
Vortrag der Farbe“, erläutert er 1995 in einem
Gespräch, „verweist auf eine Geistigkeit
beziehungsweise auf etwas Immaterielles. Die Farbe erscheint durch
die Farbordnung selber materielos. Man vergisst, daß es Farbe
ist.“
Diese spezielle
Farbgestaltung lässt den Betrachter die künstlerische Idee
von einer schwingenden bzw. „atmenden Bildoberfläche“,
die nicht mit der Leinwand identisch ist, sinnlich erfahren.
Otto Greis’
Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte, die sein Leben lang
anhält, führt ihn zu der Frage, worauf die Wirkkraft von
Bildern unterschiedlicher Epochen beruht. „Nicht weil da ein
Engel gemalt ist, berührt es uns, sondern ein bedeutsames
Formereignis, verbunden mit einer geheimnisvollen Farbe, trifft
uns“,
konstatiert der Künstler 1973.
An der romanischen
Malerei und Bauplastik Frankreichs verfolgen Otto und Margaret Greis
die Gestaltungsprinzipien von Fläche und Form. Sein Fazit
lautet: „Die genetische Form wurde mir in den Jahren
1959/60 bewußt durch die intensive Beschäftigung mit der
romanischen Kunst in Frankreich.
Hier begriff ich das
WESEN der Form, nämlich dass die Form immer Träger des
Ereignisses sein sollte. Wenn z.B. in einem Relief in Autun die drei
Könige schlafend liegen, so ist es die Form, die liegt und
schläft, und somit drückt die Form ihr Wesen aus.“
Giottos Fresken
beeindrucken den Künstler nachhaltig. Greis sieht in ihnen den
Dualismus von Fläche und Raum dahingehend gelöst, dass
Farbflächen zum konstituierenden Element des Farbraumes werden.
Bereits 1960 betrachtet Greis „die Verwandlung eines
haptischen Empfindens in ein optisches Phänomen“
als Aufgabe und zugleich Kernproblem der Malerei. Durch alle
Schaffensphasen hindurch, die sich äußerlich sehr
unterscheiden, verfolgt er diese Idee, für das haptische
Empfinden eine farbige Sensation zu entwickeln. Greis formuliert: „In
der Malerei ist die dritte Dimension oder das, was auf Raum verweist,
eine Flächenquantität, dabei ist es gleich, ob es sich um
Atmosphäre (denken Sie an die meisterhaften Durchblicke zwischen
den Bäumen bei Watteau) oder um eine feste Form im Bilde
handelt, beides sind Flächenquantitäten, die verankert sind
im autonomen Gestaltungssystem und Bildgefüge, sonst entstehen
‚Löcher’ in der Bildebene.(...) Vor meinem Auge sehe
ich die großartige bildräumliche Ordnung eines Poussin,
die schwingenden Passagen eines Rubens oder Delacroix’, oder
Cézannes Tektonik und viele mehr (...).“
Greis’
kunsttheoretische Betrachtungen und seine optischen Erlebnisse auf
den Bootsreisen, lassen ihn in den 70er und 80er Jahren zu einem
Bildaufbau finden, der von einer ganz eigenständigen Form- und
Raumauffassung geprägt ist. Aufschlussreich sind folgende
Bemerkungen des Künstler von 1982: „Die Passagen der
Pläne, also die Übergänge, die das Auge unmerklich von
einem Plan innerhalb des Bildraumes zum anderen wandern lassen. Für
mich haben diese Passagen besondere Bedeutung, Passagen, die durch
die Organisation auf der Bildfläche alle Formteile zu einem
einheitlichen Formereignis, zu einer Bildform zusammenschließen.
Weiterhin sind wesentlich die Bildtiefen, die wie in die Fläche
eingetriebene Fugen erscheinen, Schlüsselpunkte, von denen die
Funktion eines ‚Anrufes’ ausgeht: Das Bestimmte ruft nach
dem Unbestimmten und umgekehrt. Der Reichtum der Variationen dieser
Fugen in ihrer Vielgestalt überläßt mich einer
Formbildung etwa analog dem Wachsen in der Natur, in der ja Form und
Wesen eins sind. Ein gewisses Nacherschaffen der treibenden Kräfte
hinter den Erscheinungen, eine Kunstnatur parallel zur Natur, die uns
umgibt. Hier liegt für mich der ‚gestalterische’
Ansatzpunkt wie ein strenger Kanon zu meiner abstrakten Malerei.(...)
Form als Anruf (...), Form, die uns erst bewusst wird, indem wir ihr
Entstehen auch in uns nachvollzogen und somit aufgenommen haben.“
Wie kann das Wesen der
subtilen Formmodulationen in Greis’ Bildern, die sich aus einer
entsprechenden Farbbehandlung ergeben, definiert werden?
Die Zurückführung
von Formen auf bloße Andeutungen von Formen, auf nicht genau
differenzierbare Formmodule, ruft den Eindruck eines fortwährenden
gestalterischen Prozesses hervor. Greis lässt Bildformen
entstehen, die sich im „Werden“ oder „Vergehen“
befinden. Dies entspricht einer „genetischen
Formbildung“,
wie sie der Künstler 1974 definiert hat.
Die geradezu
synthetische Beziehung der Bildelemente untereinander, entspricht
der künstlerischen Intention, mit der farbgebundenen Form- und
Raumgestaltung auch die Lichtqualität der Bilder
herauszuarbeiten. Otto Greis: „Um mein ‚Imago’
von Licht zu realisieren, brauche ich die Form, sie fängt es
ein, an ihr wird das Licht ebenso Formteil wie sie selbst, es wird zu
einem Strukturelement, ich bekomme das Licht sozusagen in den
Griff.“
Die „flüchtigen“
Lichträume kennzeichnet eine „Unabschließbarkeit
der Farb-Relationen“.
Daraus entwickelt sich eine dynamische Raum- und Lichtstruktur, die
als unendliches Kontinuum wahrnehmbar ist. In diesem Sinne dürfen
die Werke ab 1970 als Metamorphosen des Lichts interpretiert werden,
als bildliche Äquivalente zu einer in immerwährender
Entwicklung und Verwandlung begriffenen Natur.
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