<h4>1978 - 1986</h4>
Das „Atalayar“-Gebirge, nördlich von Almeria, gibt der Bilderfolge, die 1978 beginnt und in Abständen bis 1986 fortgeführt wird, ihren Namen. Im kleinen Format von etwa 40 x 50 cm entwirft Otto Greis vielfach hinterfangene Lichträume, deren Farbigkeit von einer warmen, erdigen Chromatik bis zur kühler gestimmten blau-roten Seite der Farbskala variiert. Charakteristisch ist, wie in den großen Leinwandbildern dieser Jahre auch, ein Bildaufbau aus annähernd transparenten Farbschichten. Ein Eindruck von lichtdurchwirkten Schleiern, die in ihrer Staffelung Farbintensivierungen und eine damit verbundene diffuse Räumlichkeit bilden, entsteht. In einem Brief an Werner Haftmann erklärt Otto Greis zum symbiotischen Verhältnis von Farbe, Form, Raum und Licht in seiner Malerei: „Licht im Bilde ist für mich nicht das Leuchten oder Aufleuchten einer Farbe oder Partie, sondern es ist als Bildelement an der Gestaltung mitbeteiligt, durchstrahlt die Farbe, die dadurch ihre materielle Substanz, was sie ja ist, verliert und sich mehr dem Zustand des materielosen Schwebens nähert – (...), das ist zunächst ganz technisch gesehen.(...) Ich ‚denke’ in plastischen Massen, durch die Modulationen gebildet, die sich dem Beschauer entgegen bewegen als würde das Licht von innen her drücken, Massen, die sich immer wieder mit der Fläche verknoten. Die Malerei führt also ihr geheimes Leben in jenem Bereich, wo sie die Fläche zu verlassen beginnt und ihr wieder einverleibt wird.
So ist auch der Begriff Form nie eine begrenzte Form, sondern immer etwas, das sich im Anschauen ständig bildet, ohne Unterlaß.“1
Den naturwissenschaftlich-philosophischen Hintergrund für Greis’ metamorphotische Formauffassung bilden Goethes botanische Studien. Die Farbmodulationen in ihrer Steigerung und ihrer Abschwächung gliedern die Kompositionen. Im optischen Erfassen der rhythmisch geordneten Bildgestaltungen, entwickeln sich Form und Raum. Otto Greis spricht anfang der 70er Jahre von einer „genetischen Formbildung (...) im Goethischen Sinne“2. Seine Kunstwerke korrespondieren mit einer prozessualen Grundregel der Metamorphosenlehre, die Goethe als ein Wechselspiel von Ausdehnung und Zusammenziehung als Basis allen Wachstums bestimmt. In der „Atalayar“-Serie als auch generell in den Werken der 70er und 80er Jahre, klingt daher, mit dem ins Bildnerische umgesetzte Prinzip von Intension und Degression, das Thema von Gestaltbildung und Verwandlung an.
Die Bilderfolge verdeutlicht außerdem, dass die künstlerische Idee der Metamorphose über das einzelne Werk hinaus reicht. Otto Greis findet im variablen Formpotential seiner Arbeiten immer wieder Aspekte, die ihm als Ansatzpunkte für das nachfolgende Bild dienen. Die Kompositionen besitzen einen durchaus „transitorischen“ Charakter, der die Phantasie des Betrachters dahingehend anregt, Rückschlüsse auf das vorangegangene Bild zu ziehen, bzw. Formen weiter zu entwickeln. Der offenen Gestaltung entsprechend, liegt in jedem Bild bereits das Zukünftige verborgen. Der Künstler erklärt dazu: „Der kleinste Teil muß das Ganze enthalten. Aber wenn man aus einem Teil wieder ein neues Bild macht, so genügt es nicht, diesen einfach auszudehnen. Es muß eine ganz neue Organisation entstehen, die mit neuen Keimzellen erfüllt ist.“3
Greis’ Wortwahl fokussiert einmal mehr auf seine Definition des Kunstwerks als einen eigenständigen Organismus. Seine Entfaltung beruht, nach Ansicht des Künstlers, auf einer Durchdringung der Bildelemente Farbe, Form, Raum und Licht. Ganz aus der Farbe und ihrer Modulationen, entwickelt er eine kaum weiter zu treibende bildnerische Dichte. Otto Greis stellt sich bewusst in die Tradition einer malerischen Malerei, die mit Renoir, Corot und Cézanne für ihn Vorbildcharakter besitzt. Das Malerische der „Atalayar“-Serie führt überdies zu dem Eindruck einer immerwährenden Bewegung, da „alles sich in jedem Punkt und Parameter erneuert,(...), da zumindest ein relativer Ruhepunkt fehlt, an dem der Unterschied zwischen Bewegung und Stillstand messbar würde.“ 4
Malerei zeigt sich versinnbildlicht und optisch erfahrbar.
Der „dynamische Unendlichkeitscharakter“ der einzelnen Arbeiten und der Werkfolge insgesamt, korrespondiert auf diese Weise erneut mit Goethes Beobachtungen zur „Metamorphose der Pflanzen“, die der Dichter als einen infiniten Prozess beschreibt.
Greis’ malerische Malerei, „in der die Linie keine Existenz mehr hat“5, wird zum Ausdrucksträger lyrisch gestimmter Bildwelten. Seine Poesie ist untrennbar mit der Farbgestaltung verbunden. Er erläutert diesbezüglich: „Die Farbe transzendiert ihre Materie und wächst in das Gebiet der ein- und vieldeutigen Gestalt und wird selbst Poesie.“ 6
In den Farbtiefen und –höhen, die harmonisch das Bild gliedern, „hat das Orphische (...) seinen Raum, durch die nicht endgültig flächenhaft fixierbaren Farben, die schwebende Tiefenschwingungen angeben, die gleichzeitig eingehängt sind in das rhythmische Gefüge.“7 Formuliert Otto Greis 1958 und bezieht sich expressis verbis auf den von Guillaume Apollinaire in Bezug auf Delaunays „Fenster-Bilder“ entwickelten Terminus des Orphismus. Die spezifische Ausstrahlung dieser Werke, die sich auf Licht, Farbe und Rhythmus gründet, hat den Dichter zu dieser Begriffsbildung inspiriert. Damit wählt Greis einen Ausdruck, der die Aufmerksamkeit direkt auf die hervorstechenden Charakteristika auch seiner Bildgestaltungen lenkt. Sowohl Delaunay als auch Greis widmen sich dem Licht als bildbeherrschendem Thema. Für den Franzosen ist dieses Sujet mit einer erweiterten Interpretation als „mouvement vital du monde“ hinterlegt.8 In seiner farbigen Repräsentation beinhaltet das Licht für beide Künstler eine poetische Qualität.
Allerdings ist Greis, wie vor ihm bereits Delaunay, nur an einer Form der Poesie interessiert, die allein aus den malerischen Mitteln hervorgeht. Otto Greis erklärt: „Die Poesie in der Malerei ist nicht ablesbar, sie ist ein Zustand, frei von jeglicher Literatur.“9
Die „Atalayar“-Serie, deren Gestaltung dem Zusammenklang der Bildelemente verpflichtet - und zugleich mit der Weltanschauung des Künstlers untrennbar verbunden ist, kann als Ausdruck einer „Poesie pure“ im Sinne Apollinaires betrachtet werden.10
1 Brief von Otto Greis an Werner Haftmann, La Frette sur Seine, 7.12.1977, zit.n. Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd.4), Aachen 2002, S.37f
2 Otto Greis, Zu meiner Malerei, La Frette sur Seine, Nov. 1977, zit.n.: ebd. S.58
3 Otto Greis, o.J., ebd., S.58
4 Kern, Hermann, Zeit-Bilder. Zur Bedeutung von Bewegung in der Malerei des 20. Jhrds, in: Neue Malerei in Deutschland, hrsg. J. Harten/D. Honisch/H. Kern, München 1983, S.44
5 Brief von Otto Greis an K.H. Gabler, 1960, zit.n. Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit, a.a.O., S.26
6 Otto Greis, 1958, zit.n. Kat. Otto Greis. Retrospektive zum 75. Geburtstag, Landesmuseum Mainz, 1989, S.8
7 ebd., S.8
8 Werner Hofmann, Zu einem Bild Robert Delaunays, in: Bruchlinien. Aufsätze zur Kunst des 19. Jahrhunderts, München 1979, S.110
9 Otto Greis, o.J., ebd., S.54
10 Guillaume Apollinaire, Die Maler des Kubismus, Genf 1950, zit.n. Hajo Düchting (Hrsg.), Robert Delaunay. Zur Malerei der reinen Farbe. Schriften von 1912 – 1940, München 1983, S.84