„ Am stärksten verändert hat sich Otto Greis. Er hat die farbigen Flecken und sprühenden Nebel zugunsten einer düster versponnenen Malerei verlassen. Viele seiner Bilder, in denen graue und weiße Linien ein System auf fast schwarzem Grund verknoten und umspannen, erinnern an anatomische Gebilde, an Muskeln und Sehnen geheimnisvoller Organismen, an Phantome, in denen Angst und Grauen zu Hause sind. Verquälte Verflechtungen werden da geschaffen, aus denen das Bedrohliche spricht. Greis sucht neue Lösungen.“1 Konstatiert die Kunstkritikerin Doris Schmidt 1956 anlässlich einer Ausstellung der vier Quadriga-Maler im Frankfurter Kunstverein.
Gut zehn Jahre später, 1967, erklärt Otto Greis weshalb er sich von der tachistischen Malweise abwendete: „ 1955 und 1956 folgte eine Serie von dunklen Bildern mit hellen Strukturen, die ich die Tuareg-Serie nannte. Diese Bilder sind kaum gezeigt worden, aber sie waren in meiner Arbeit wichtig; es waren für mich Schritte aus dem Informel heraus zu einer Form zu finden.“2
Aus der absichtslosen Gestik, die schwungvoll viele seiner informellen Gouachen der Jahre 1953 bis 1955 beherrscht, entwickeln sich nun beinahe gestalthafte Formen. Anfang der 50er Jahre stellt es sich für Otto Greis als eine Notwendigkeit dar, sich radikal von künstlerischen Vorbildern zu lösen und einen eigenen malerischen Weg zu suchen. Die so gewonnene Freiheit verbindet sich für ihn jedoch bald mit dem Risiko, dass sich die experimentelle und teilweise automatische Malweise selbst genügt und die vormals befreiende Gestik, in ihrer Repetition, zum dekorativen Element verflacht.
Otto Greis sucht nach einem authentischen Bildausdruck. 1955 setzt er wieder an, wo er begonnen hatte, als er gemeinsam mit E.W. Nay die Werke der Klassischen Moderne in ihrer Gestaltung analysierte. Das Bild, verstanden als „Bildraumkörper“ und das Wirken der Formen und Farben in ihren Beziehungen, bestimmen wieder den Dialog zwischen Künstler und Leinwand. Erklärtes Ziel ist es, Bilder zu gestalten, die aufgrund ihrer Aussagekraft über die Gegenwart hinaus Gültigkeit besitzen. Greis formuliert für sich diesen Anspruch, als sich das Informel in Deutschland zunehmend durchsetzt. Albert Schulze Vellinghausen wird 1959, anläßlich der Dokumenta II, von einer „Weltsprache“ des Informel sprechen, aber auch kritisch fragen: „Was mag von uns Heutigen bleiben? (...) Was bleibt, ist nur auf der Oberfläche eines höchst vergänglichen Vordergrundes Sache des ‚Auskämpfens’. Es hängt von freiwilliger Bindung ab: wieweit wir die Freiheit richtig verstehen. Der Künstler hat Anspruch auf alle Freiheit (...). Man kann sie ihm nicht - leutselig generös – ‚gewähren’; er ist schlechthin zu ihr verdammt. Aber er muß damit umgehen können. (...) Der Alptraum hat sich gleichsam nach innen verlagert; als unablässige Forderung an den Künstler, dem Chaos andringender (und täglich von neuem entdeckter) Formlosigkeit eine neue, geprägte Form zu entreißen.“3
Als Otto Greis auf der Dokumenta II seine tachistischen Werke: „Agonie“, 1952, und „Ikarus“, 1953, zeigt, ist er geistig dem Informel längst entwachsen. Er hat aus dieser Arbeitsphase die positive Erkenntnis gezogen, dass ihm die malerische Freiheit neue Ansatzpunkte zur Gestaltung, verstanden als „Beziehung der Form zum Bildraum“4, bietet.
Die „Tuareg“-Serie stellt eine Station auf seiner Suche nach einer „bedeutsamen Form“ dar.
Die Palette des Künstlers ist auf wenige Farben reduziert: Weiß, Rot und Schwarz bestimmen den Bildeindruck. Der spontane Pinselzug, der sich expressiv in alle Richtungen ausbreitet, sich stellenweise auch zu Kreisformen verdichten kann, entspricht noch der freien Dynamik des Informel. Ebenso die experimentelle Verwendung der unterschiedlichen Malmittel, die in ihrer Konsistenz mal ölig, wässrig, oder puderartig trocken benutzt werden. Die Farb- und Formgestaltung der „Tuareg“-Bilder ist zusätzlich inspiriert von Greis’ Interesse am Fetischkult der Naturvölker. Die oftmals aus Knochen, Haaren, Zähnen u.ä. zusammengeschnürten „heiligen Bündel“ besitzen im Volksglauben eine besondere Macht. Die Vehemenz des Pinselstrichs und die blutrote Farbe lässt in den Bildern des Künstlers einen vergleichbaren Ausdruck von magischer Kraft und unheimlicher Macht wirksam werden. Otto Greis erklärt 1957: „Darf ich zur Unterstreichung noch hinzufügen, dass mir das Musée de l´Homme hier das liebste Museum ist, aus dem einfachen Grunde, weil diese Dinge (ob prähistorische Plastik oder Bildwerke der Naturvölker) einen starken Bezug zum Menschen hatten und ihn noch ausstrahlen, wenn auch ihre kultische Bedeutung für uns nicht mehr lesbar ist.“5
Greis ist, vermutlich von Ausstellungsstücken im Musée de l´Homme angeregt, 1956 auf die Idee gekommen, die Bilder aus diesen zwei Jahren zusammenfassend als „Tuareg“-Serie zu bezeichnen.
Nachts entwickelt er seine „Bildvisionen“. Rückblickend beschreibt Greis 1985 die Situation: „Im Atelier stellte ich mir in eine Ecke eine Kerze. Das war das ganze Licht, und davor sogar noch eine große Pappe, dass das Licht abgeschirmt war. Die Leinwand, die zum Teil recht groß war, stand in der anderen Ecke. Die Farbe hatte ich mir schon bei Licht zusammengemischt, sie stand in Töpfen und Schüsseln vor der Staffelei, die Pinsel waren darin. Und nun habe ich mich da in diesem Prozeß auf die Leinwand gestürzt, um bei diesem schwachen, schwachen Licht überhaupt diese helle Weißstruktur herauszuarbeiten, die eine gewisse magische Funktion haben sollte.“6
Diese Intention und die expressive, visionäre Bildgestaltung korrespondieren mit einer zweiten Welle des Surrealismus, die sich in Frankreich nach 1945 ausbreitet und sich vorzugsweise dem „Magischen“ zuwendet. Der Kritiker José Pierre betrachtet André Bretons Buch „L´art magique“, das 1957 erscheint, als ein Ergebnis der in den Jahren zuvor stattgefundenen Wandlung von der surrealistischen Bildauffassung hin zu magischen Ausdrucksformen. Die „Tuareg“ – Bilder fügen sich damit in den intentionalen Kontext dieser Kunstströmung, die dem Unerklärlichen und Irrealen Ausdruck gibt. Otto Greis lehnt für sich eine Ausschaltung des Bewusstseins während des Malaktes ab, da er ein in sich fest verwobenes Form-Raumgebilde herausarbeiten möchte. Der malerische Duktus, insbesondere der Bilder von 1955, zeugt jedoch von einer Emotionalität, die sich als bildnerisches Spannungsgefüge niederschlägt. Doch sehr bald wird sich Greis einer gegenständlich-illusionären Wirkung in einigen seiner Arbeiten bewusst.
Der Künstler zerstört deshalb viele Werke aus dieser Zeit und beginnt 1956 mit großformatigen Collagen, die erneut seine konzentrierte Auseinandersetzung mit der Fläche fordern.
1 Doris Schmidt, Gipfel der Sujektivität, Tachisten im Frankfurter Kunstverein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.4.1956, S.6
2 Brief an Dr. Bussmann, La Frette sur Seine, Nov. 1967, zit.n. Kat. Otto Greis, Retrospektive zum 75. Geburtstag, Landesmuseum Mainz 1989, S.8
3 Albert Schulze Vellinghausen, Olympia der Kunst, Zur Dokument II – Kunst nach 1945 in Kassel, in: Frankfurter Allgemeine, 25.7.1959, Nr. 169
4 Otto Greis, o.J., zit. n.: Ulla Siegert, Otto Greis, Bildwirklichkeit und Poesie, (Über Malerei Bd.4), Aachen 2002, S.34
5 Brief vom 15.5.1957, abgedruckt in: Otto Greis, Skizzen, in: Blätter und Bilder, Nr.10, 1960, S.72
6 Fernsehinterview Otto Greis/Isolde Pech, 1985, zit. n. Ursula Geiger, Die Maler der Quadriga und ihre Stellung im Informel, Nürnberg 1987, S.182