Otto Greis erarbeitet 1998 drei große Bildtafeln. Sie tragen die poetisch gestimmten und von der griechischen Mythologie inspirierten Titel: „Daphnes Geäst“, „Helios Wagen“ und „Auroras Lorbeer“ (vormals: „Gespaltene Auen“). Beeindruckend ist ihr leuchtendes Farbenspiel, dass von einem Grün-Blau-Kontrast beherrscht wird. In dem Werk „Daphnes Geäst“ lässt der Künstler deutlich die einzelnen Pinselspuren stehen. Ihre unruhige Verteilung forciert den Eindruck von vibrierendem Rhythmus und Spannung. Bewegung und Form bilden einen außerordentlichen Antagonismus. Virtuos gelingt Greis eine Harmonisierung, indem er den Farbfleck an die Fläche bindet und das lebhafte Farbenspiel mit Hilfe von Weiß-, Ocker- und Braunmischungen partiell beruhigt. Das Bild „Lorbeer für Aurora“ ist weicher gestimmt. Die Bewegungssuggestion von herabströmenden Farbformen ist beibehalten, allerdings mittels einer subtileren Farbchromatik moduliert. In diffuser Leichtigkeit klingen Formen an, oder verflüchtigen sich wieder in dimensionslose Farbräume.
In dem Buch: „Aufbruch in eine neue Bildwirklichkeit“, das Otto Greis 1999, gemeinsam mit Margaret Bolza-Greis, zusammenstellt, ist dem genannten Werk folgendes Zitat beigeordnet: „Es vollendet sich in einem Bilde der lange Weg einer Verwandlung. Unbekanntes, die Leere, wird angerufen und mit in den Bereich der Wahrnehmung, des Sichtbaren, einbezogen. Wandlung und Umwandlung sind in ständigem Vergehen und Finden eines Ereignisses, das mit seinem Anruf über das Formgeschehen hinausweist – und letzten Endes ist das die eigentliche Aussage eines Bildes.“1
Die Sätze verdeutlichen, welchen Wert Greis auf den bildnerischen Prozess legt, und das für ihn ein Bild nicht als Projektionsebene für bereits gefasste Vorstellungen dient. Erst in einem konzentrierten Dialog zwischen Maler und Leinwand entwickeln sich Formen, die sich im Verlauf der Arbeit auch immer wieder verändern. Während des Malens möchte Greis zu Formen finden, die einem tief in ihm verwurzelten Gestaltrepertoir entstammen. Es geht ihm um eine Annäherung an seine Imago. Als Archetyp von Form soll sie, laut Greis, die Gestaltung lenken. Diesen Anspruch einer geistigen Anteilnahme am Werk, einer Konkretion unbewusster Affinitäten, stellt Greis an sich und seine Kunst seit seiner Beschäftigung in den 40er Jahren mit der Malerei Paul Klees.
Greis’ malerisches Lebenswerk schließt mit drei Bildern, die vom Dezember 2000 bis zum Februar 2001 entstehen. Sein plötzlicher Tod im März 2001 hindert ihn daran die Werke zu betiteln. Ihre Gestaltung zeigt sich erstaunlich unabhängig von den vorangegangenen Arbeiten. Die „lichthelle“ Ausstrahlung ist ganz den Himmelsfarben von Weiß, Grau, Blau über Rosé verschrieben. Mit der zunehmenden Formauflösung geht eine scheinbare Entstofflichung der Farbe einher. Allen drei Bildern haftet – vielleicht durch die Fernwirkung der Blauvariationen hervorgerufen – der Eindruck einer zunehmenden Verflüchtigung an.
Abschließend seien Greis’ Gedanken zum „Farbbildraum“, die sich wie eine Beschreibung seiner letzten Bilder lesen, angefügt: „Die verschiedenen Tiefenwirkungen der Farben auf der Leinwand sollen sich durch die Passagen zu einer imaginären Ebene zusammenschließen: Dies ist die eigentliche ‚geistige’ Bildebene (...). Die Leinwand als solche verliert vollkommen ihre Bedeutung (sie wird quasi abgeschüttelt!), es entsteht eine schwebende und atmende Bildebene, entmaterialisiert und transzendent.“2
1 Otto Greis, Aufbruch in eine neue Bildwirklichkeit, mit Beiträgen von Werner Haftmann, Lorenz Dittmann, Christa Lichtenstern, Ulla Siegert, München 2000, S.142
2 Otto Greis, September 1998, zit. n. Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd. 4), Aachen 2002, S.47