Otto Greis’ Bilder aus dem Zeitraum von 1945 bis 1951 können als sein Frühwerk betrachtet werden. Für die Beachtung dieser vielfach kleinformatigen Werke spricht ihre Gestaltung, die auf reflektierten bildnerischen Vorstellungen beruht. Die kunsttheoretischen Ideen, die Greis in dieser Zeit entwickelt, behalten als Grundanschauungen ihre Relevanz für sein weiteres Schaffen.
Die Werke zeigen, dass der Künstler die Bindung an den darzustellenden Gegenstand kontinuierlich dahingehend löst, so dass er lediglich als Anregung für die Formgebilde und den Bildaufbau dient.
Die Konzeption eines „Bildraumkörpers“1 von der Otto Greis erst 1960 explizit spricht, zeigt in seinem Frühwerk erste Formulierungen. Die malerische „Durchdringung mit der dritten Dimension“2 ist für ihn seit 1945/46 wesentlich.
Greis’ künstlerische Entwicklung von 1945 bis etwa 1948 erfährt entscheidende Impulse durch seine Freundschaft mit dem damals elf Jahre älteren Ernst Wilhelm Nay. Dessen Überlegungen zum aperspektivischen, autonomen Kunstraum, der, wie Otto Greis 1946 erklärt, „seinen Ursprung vollkommen in den Notwendigkeiten der absoluten Bildgestaltung hat“3, gibt ihm wertvolle kunsttheoretische Anregungen. Seine Wortwahl lässt zudem eine Auseinandersetzung mit Ansichten Wassily Kandinskys deutlich werden. Willi Baumeisters These: „Alles sichtbar Werdende tritt in ein Kraftfeld von Beziehungen (...). Alles Nicht-Notwendige [im Bild, Anm.d.V.] ist falsch“, wird Greis’ eigene Auffassung zusätzlich bestätigt haben.4 Otto Greis versteht unter dem Begriff der „Notwendigkeiten“ im Bild das kausale Bezugssystem der Elemente: Farbe, Form und Linie und eine damit einhergehende gestalterische Hermetik.
Die Kompositionen „Jethro“, oder „Boot“, beide von 1950, offenbaren eine Bildarchitektur, die vom Dualismus Raum und Flächenform bestimmt ist. Die winkligen, spitz ineinander greifenden Formen führen zu einer Bildebene, die wie „verfugt“ anmutet, so dicht und präzise sind die drei Bildmittel miteinander in Beziehung gesetzt. An den Werken lässt sich optisch erfahren, was der Künstler bereits 1946 notiert hat: „Kontinuierlich erschließt sich der gesamte Bildraum, der eine Einheit ist und keine Aufteilung in Gründe kennt, der Ausgleich des Dreidimensionalen mit der Fläche ist in ihm gestaltet, und die Statik des Raumes und die Dynamik der Zeit ist in ihm gesichert. Nichts kommt von außen her in das Bild hinein, noch ragt etwas aus ihm heraus in den Naturraum.“5
Die beispielhaft herausgegriffenen Werke zeugen von einer Orientierung am Kubismus. Greis’„kühle Abstraktionen“ lassen auch an die deduktive Malmethode Juan Gris’, oder an die Skulpto-Malereien Alexander Archipenkos denken.
Die Idee, das Bild vornehmlich aus einem Beziehungssystem von Farbe, Form, Linie und Raum heraus zu entwickeln, kennzeichnet allerdings nur eine Seite des Werkprozesses. Zahlreiche Arbeiten aus der Nachkriegszeit sind von der künstlerischen Absicht geprägt, einer inneren Anschauung bildhaft Ausdruck zu verleihen. Die chiffrenhaft reduzierte Formensprache von Bildern, wie z.B. „Nächtliche Zeichen“, oder „Quelle“, beide von 1951, machen die Vorstellungswelt des Künstlers intuitiv erfahrbar. In einem spielerisch-freien und malerischem Duktus entwirft der Künstler wesenhafte Formen, die bei dem Betrachter entsprechende Assoziationen hervorrufen. Greis’ Auseinandersetzung mit dem Werk Paul Klees ist offensichtlich. Klees Gedanken zum Bild, die er 1924 in dem Buch „Über moderne Kunst“ veröffentlicht hat, stellen für Otto Greis und viele seiner damaligen Künstlerkollegen eine wichtige Anregung dar. Mit Werner Haftmanns Künstlermonographie: „Paul Klee, Wege bildnerischen Denkens“, das 1950 erscheint, beschäftigt er sich intensiv. Hier begegnet Greis zum ersten Mal dem „Imago“- Begriff, wie ihn der Kunsthistoriker für die Bildwelten Klees interpretiert. Expressis verbis greift Otto Greis diesen Ausdruck erst 1962 auf, in Anlehnung an die Vorstellung, die „Imago als Wirkformel des Imaginativen“ und letztlich als das „Sein des Bildes“ zu verstehen6, und gibt ihm eine persönliche Nuancierung. Da sein „Imago“-Verständnis für das gesamte Oeuvre von fundamentaler Bedeutung ist, soll an dieser Stelle Greis’ Begriffsdefinition, die 1982 von der französischen Kunsthistorikerin Agnes Minazzoli schriftlich festgehalten wurde, zitiert werden:
„Der Begriff >>Imago<< bezeichnet weniger die in Erscheinung tretende Bildgestalt auf der Leinwand, als das Abstraktum einer Konzeption der Form, die der Maler hat, bevor er sie sichtbar macht.
Das Imago ist der >>Archetyp<< des Werkes, es ist der Ort einer geistigen Tätigkeit, die Geburtsstätte der schöpferischen Vorstellungskraft. Ein vorgestelltes Modell, bewusst(im Gegensatz zu diesem Begriff in der Psychoanalyse) enthält das Imago alle Elemente einer Formentstehung, da es doch die Uridee und der Prototyp der Form ist.
Jeder schöpferische Akt setzt eine geistige Teilnahme voraus. Malerei ist erst eine intellektuelle Aktivität, bevor sie die Arbeit an konkreten Formen ist. Das Imago unterscheidet sich also von der Bildgestalt, wie die Konzeption von einem Dreieck oder Linie sich von einem bestimmten Dreieck oder Linie unterscheidet. Das Bild ist eine wahrnehmbare Darstellung. Das Imago ist die Anwesenheit der Form im Geiste. Das Bild ist eine Wiedergabe, das Imago ist das Bauen oder Erschaffen von einem Modell. Noch mehr als die Bildgestalt zeugt das Imago von der schöpferischen Arbeit, von der Intensität einer Anwesenheit: nämlich der des Geistes, der sich selbst erschaut.“
Auf seiner Suche nach künstlerischer Authentizität genügen Otto Greis die erarbeiteten Bildlösungen nicht lange. Bereits im Spätherbst 1951 versucht er sich mit formnegierender Vehemenz von der Kunsttradition und ihren Vorbildern zu befreien.
1 Brief von Otto Greis an Karlheinz Gabler, 23.10.1960, zit. n. Kat. Landesmuseum Mainz 1989, Otto Greis. Retrospektive zum 75. Geburtstag, S.8
2 ebd., S.8
3 Brief von Otto Greis an Herrn Rohlf, Bad Soden, Jan. 1946, zit.n. Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd. 4), Aachen 2002, S.21
4 Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, 2. Aufl. Köln 1960, S.174
5 Brief von Otto Greis an Herrn Rohlf, Bad Soden, Jan. 1946, a.a.O., S. 21
6 Werner Haftmann, Paul Klee. Wege bildnerischen Denkens, München 1950, S.133