Naturerlebnis

<h4>1945 - 1951</h4>

Und so sind es immer Begegnungen, wenn ich die ‚Natur’ anschaue, wir ‚sehen’ nur, was in uns schon vorbereitet ist. Die Imago ist die letztmögliche und endgültige Erscheinungsform eines Bildes, sie ist eine geistige Konstante, die mit dem Leben des Malers festverknüpft und seine eigentliche Aussage ist“ 1, erläutert Otto Greis 1995 zur Natur als Inspirationsquelle seiner Malerei und verweist dabei auch auf die Grenze ihrer Einflussnahme.

In den 50er Jahren löst sich Greis zunehmend vom Kunstbetrieb in Deutschland und siedelt 1957 endgültig nach Frankreich über. Neben dem gedanklichen Austausch mit anderen Künstlern, etwa in der Gruppe „ligne 4“ in Paris, wird für Greis’ Arbeit seine tiefe Zuneigung zur Natur maßgebend. Direkt am Ufer der Seine, in La Frette, arbeitet und lebt der Künstler in einem alten Haus, bis er 1970 ein neues Atelierhaus mit weitem Blick über den Fluss bezieht. 1958 entstehen die letzten Materiebilder; dann, 1959, setzt Greis ganz neu an.

Das helle Licht der ihn umgebenden Landschaft wirkt in seine Bildwelten hinein. Nicht abbildhaft, sondern in seinem wandlungsfähigen Wesen erfasst und als Bildelement umgesetzt. Otto Greis hat seine damalige optische Erlebniswelt mehrfach beschrieben - 1996 in einem Interview mit Barbara Auer besonders anschaulich: „ Als ich ab 1957 in Paris wohnte, kam das Erlebnis dieser unerhörten Farbwelt hinzu. Von meinem Haus in La Frette sur Seine hatte ich einen wunderbaren Blick auf die Seine. Dazu muß man wissen, dass die Lage von Paris eine ganz merkwürdige Sache ist. Paris liegt in einem tiefen Becken, mit einem Durchmesser von ca. 150 Kilometer, die sog. Île de France. Auch das Meer ist nicht weit von Paris entfernt. Der Dunst vom Meer kommt bis in die Stadt und liegt in diesem Becken. Dazu kommt dann die hinter diesem Dunst liegende Sonne. Das ist praktisch wie eine immens große leuchtende Wolke. Diese indirekte Beleuchtung strahlt nun alles an; so kann man zum Beispiel dieses Phänomen am Wasser beobachten, wo das Licht wieder hoch unter die Bäume strahlt. Ein Baum wird von unten und oben beleuchtet, und man weiß im Grunde gar nicht mehr was das ist. Ein Kubus von einem Baum wird dadurch ganz unwirklich, geradezu feenhaft. Dieses Phänomen habe ich von meinem kleinen Boot in La Frette aus unendlich oft beobachtet. Täglich schaute ich auf das Wasser, erlebte diese ungeheure Feinheit der Farbstufungen, und ich verstand zum ersten Mal den Impressionismus. Was das für eine Leistung war, diese ungeheuere Sensibilität in der Malerei. Das hat mich sehr berührt und nachhaltig die Qualität meiner Malerei vorangetrieben.“2

Die hellen, außerordentlich fein nuancierten Bilder zu Beginn der 60er Jahre bezeugen die Empfänglichkeit des Künstlers für Licht- und Farbsensationen. Die Farbmodulationen zur Helligkeit und auch zur Dunkelheit hin, den Bildern auf diese Weise Höhen- und Tiefenimpulse gebend, entspricht der künstlerischen Prämisse, ein „haptisches Empfinden“ in ein „optisches Phänomen“ umzusetzen.3

Otto Greis entwickelt fragile, wie in einem Schwebezustand befindliche Lichträume. Neben dem Licht in der Landschaft, ist ein Erlebnis in der gotischen Kathedrale von Soisson von entscheidender Bedeutung für sein Werk. Hier erlebt er 1958, zum ersten Mal bewusst, wie die Lichtführung untrennbar mit der Architektur verbunden ist. Entsprechend konstruktiv soll fortan auch das Licht als Bildelement in seinen Kompositionen wirken. Greis’ künstlerische Absicht zielt darauf, dass weder Farbe, noch Licht, Form, oder Raum voneinander zu trennen sind. Der Künstler erläutert: „Zum Beispiel ist es mir nicht möglich die Form zu reduzieren, die ich nötig habe um meine Imago von Licht zu realisieren, denn das Licht wird darin Formteil wie die Form, da die Form wiederum das Licht einfängt – auch die Farbe wird zu einem Element in einem autonomen Bildkörper.4

Die angestrebte bildnerische Dichte ist besonders an den Gemälden der 70er und 80er Jahre erfahrbar. Sie lassen sich als Lichtmetamorphosen interpretieren. Charakteristisch ist ihre Formensprache, deren gestalterischer Prozess nicht abgeschlossen zu sein scheint. Dieser Bildeindruck wird durch einen Schicht für Schicht lasierenden Farbauftrag zusätzlich unterstützt. Greis’ erarbeitet Formen im „Werden“ oder „Vergehen“, nicht klar umrissen und sich jeder genaueren Definition entziehend. Die „genetische Form 5 ist Topos seiner Bildwelten und der künstlerischen Wahrnehmung verpflichtet, die Natur in ihren vielfältigen Erscheinungen niemals als eine statische Gegebenheit aufzufassen.

1977 erklärt der Künstler: „Was mich vor allem an einem Bild interessiert, sind die Passagen der Pläne – Fugen des Anrufes möchte ich sie nennen – sie ermöglichen mir eine genetische Formbildung analog zur Natur, gleichsam ein Nacherschaffen der treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen, eine ‚übergeordnete Natur’ parallel zu ihr. Genetische Formbildung, Urphänomene in der Natur, im Goethischen Sinne. Formen trachten danach sich zu verwirklichen, ihr Wirken zu entfalten – durch den Nachvollzug ihres Entstehens werden sie uns erst bewusst.6

Greis’ Vorstellung nach, können die Bildelemente Farbe, Form, Raum und Licht zusammenhangbildend, d.h. organisch verwendet werden. Für den Künstler ist die „genetische Formbildung“ im Kunstwerk vergleichbar mit dem natürlichen Tier- und Pflanzenwachstum, deren Entwicklung eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. In dieser Hinsicht setzt Greis eine malerische Tradition fort, die mit Cézannes Absicht eine „Harmonie parallel zur Natur“7 gestalten zu wollen, beginnt und in unterschiedlichen Facetten u.a. von Wassily Kandinsky, Paul Klee und Willi Baumeister fortgesetzt wird. Greis’ Blick auf die „treibenden Kräfte“8 in der Natur resultiert aus seiner Beschäftigung in den 40er Jahren mit dem Werk Paul Klees. Von Goethes Naturbeobachtungen beeinflusst, betrachtet Klee die Pflanzenwelt in ihren Erscheinungen lediglich als „Formenden“9, deren Gestalt in fortwährender Um- und Weiterbildung begriffen, zurück oder auch in die Zukunft gedacht werden kann. Auch für Otto Greis’ Auseinandersetzung mit der Natur sind Goethes Schriften, insbesondere zur Metamorphose der Pflanzen und der Idee einer sog. Urpflanze, inspirierend. Entsprechend äußert er sich: „Der kleinste Teil muss das Ganze enthalten. Aber wenn man aus einem Teil wieder ein neues Bild macht, so genügt es nicht, diesen einfach auszudehnen. Es muss eine ganz neue Organisation entstehen, die mit neuen Keimzellen erfüllt ist.“10

Otto Greis deutet den Zufall im künstlerischen Schaffensprozess als eine „fruchtbare Störung11. Er kann dem Bild einen neuen Impuls geben. 1995 resümiert Greis: „Formveränderungen kommen aus der Arbeit, ‚das Bild kommt aus dem Bild’. Das ‚Bild’ geht aus dem Bilde hervor, geleitet von dem Trieb nach einem größtmöglichen Zusammenfallen von Formwesen und Aussage, dass sich die Gegensätze zu einer Harmonie verbinden.“12

Seit 1959 ist diese Bildauffassung für die Malerei von Otto Greis charakteristisch. Der Künstler findet Formmodule, aus denen er wieder ein neues Werk entwickelt und die Beschreibung, dass das Bild aus dem Bilde sozusagenerwächst“ mutet treffend an. Otto Greis’ Arbeitsweise korrespondiert mit seinem Naturerlebnis- und verständnis die äußeren Gegebenheiten als fortwährenden, dynamischen Prozess, als natura naturans aufzufassen.





1 Brief von Otto Greis an U. Siegert, Alcudia de Guadix, 1.11.1995, zit. n. Ulla Siegert, Otto Greis. Farbe – Form – Licht, Werkverzeichnis 1945 – 1995, Hamburg 1999 (Diss.), S.175, Anm.6

2 Interview O.Greis/B. Auer, 1996, Kat. Otto Greis, Kunstverein Ludwigshafen am Rhein e.V. 1996, S.11

3 Brief von Otto Greis an Karlheinz Gabler, 1960, zit. n. Kat. Otto Greis. Retrospektive zum 75. Geburtstag, Landesmuseum Mainz 1989, S.8

4 Brief von Otto Greis an René Drouin, La Frette sur Seine, 1974, ebd. S.13

5 Otto Greis, La Frette sur Seine, Nov. 1977, zit. n. Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd.4), Aachen 2002, S.58

6 ebd., S.58

7 Joachim Gasquet, Cézanne (Gespräche), Paris 1921, zit. n. Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbeck 1956, S.19

8 Paul Klee, Über die Moderne Kunst, Bern-Bümplitz 1945, zit. n. Walter Hess, a.a.O., S.84

9 ebd., S.84

10 Undatierte Äußerung, zit. n. Ulla Siegert, Otto Greis, a.a.O., S.58

11 Brief von Otto Greis an Arnulf Herbst, 26.5.1984, zit. n. Kat. Otto Greis, Retrospektive zum 75. Geburtstag, a.a.O., S.17

12 Brief von Otto Greis an Ulla Siegert, Alcudia de Guadix, 1.11.1995, zit.n. Ulla Siegert, Otto Greis, a.a.O., S.59