<h4>1952 - 1953</h4>
Mit dem Jahreswechsel von 1951 auf 1952 erfährt das Werk von Otto Greis eine einschneidende Zäsur. Auf malerisch radikale Weise nimmt der Künstler Abstand von seinem bisherigen Schaffen. Zum ausschlaggebenden Erlebnis wird ein Besuch der „COBRA“- Ausstellung im Herbst 1951. Zuvor lernt Otto Greis in der Künstlergruppe um die Frankfurter Zimmergalerie Franck, in der er 1949 seine erste Einzelausstellung hat, Karl Otto Götz kennen. Gemeinsam wird über aktuelle Kunst diskutiert. Im damaligen besetzten Deutschland ist es allerdings nicht einfach über die Grenzen zu schauen, um sich an der internationalen Kunstentwicklung zu orientieren. Ludwig Baron Döry erinnert sich: „Von den ‚Frankfurter Tachisten’ aus gesehen, war die Galerie in zweierlei Hinsicht wichtig: einerseits bot sie den damals mittellosen Malern angemessene Ausstellungsmöglichkeiten, andererseits vermittelte sie durch Ausstellungen junger Künstler aus dem Ausland und durch Leseabende wertvolle Anregungen und Kontakte.“1
Karl Otto Götz ist seit 1949 Mitglied der Gruppe „COBRA“, zu deren Hauptvertretern Karel Appel, Asger Jorn, Corneille und Constant Nieuvenhuys zählen. Ihre revolutionäre Haltung resultiert aus der Ablehnung gegenüber tradierten Kunstformen und ästhetischen Vorstellungen. Das Experiment wird zum bildnerischen Mittel erhoben und der Automatismus dient als Methode. Ziel ist eine authentische Kunst, die für jeden über die Sinne erfahrbar ist.
Mit einem selbst zusammengebauten Motorrad fährt Otto Greis, mit K.O. Götz im Beiwagen, nach Lüttich und besucht die dortige „COBRA“-Ausstellung im Grand Palais. Dieses Erlebnis schildert Greis folgendermaßen: „ (...) die Tatsache, dass hier Auflehnung spürbar wurde, hatte auch bei mir zur Folge, dass ich zunächst mein lange diszipliniertes Arbeiten über Bord warf, mir also der Kragen platzte (...). Diese Eruption hatte einmal den bewussten Sinn, belastende Vorbilder abzuschütteln. Des weiteren war es die Lust am Experiment, das ‚Bild’ an den Rand seiner Möglichkeiten zu treiben; es war ein wirkliches Abenteuer mit den Mitteln der Malerei.“2
Als erste Reaktion entsteht noch im Winter 1951/52 das Bild „Claude“. Die schwarzen Pinselschwünge erinnern an vorangegangene Werke, dienen aber lediglich der Komposition ohne tieferen Bedeutungsgehalt. In den folgenden Werken vermeidet der Künstler zunehmend beschreibbare Formen und gelangt zu einer schier unlösbaren innerbildlichen Verwobenheit, in der der Farbfleck, der „tache“, zum bestimmenden Element wird. Mit dem Begriff Tachismus, der auf diese spezifische Malweise zielt, sind Greis’ Bilder von 1952 und 1953 treffend charakterisiert. Der Künstler konzentriert sich vornehmlich auf die Farbe, die mal stumpf, wie pulverisiert und mal ölig in der Konsistenz ist und zu einem Ausdrucksmittel seiner Emotionalität gerinnt. Die Begegnung mit den „COBRA“-Künstlern gibt Otto Greis den entscheidenden Impuls sich in künstlerisches Neuland vorzuwagen. Für die Bildgestaltung sind ihm aber auch Überlegungen Paul Klees, mit denen er sich bereits in den 40er Jahren auseinandergesetzt hat, wichtig. Seine Idee, ein Bild nur aus Farbflecken zu entwickeln wird für Greis richtungsweisend. Rückblickend erklärt er dazu: „Also im Bereich des Bildnerischen ein Abenteuer ins Unbekannte mit den Mitteln der Malerei. Geschüttete Flecken und Tropfen aus Farbe waren die ‚Bauelemente’, die struktural und rhythmisch verwendet werden konnten, ein spontanes, doch völlig konkretes Vorgehen, mit diesen neuen Bausteinen eine Bildwelt zu erschaffen, ohne Absicht auf eine literarische oder romantische Richtung.“3
Das Bild „Claude“ markiert einen künstlerischen Wendepunkt. Otto Greis erklärt 1996: „Für mich war das Informel eine Notwendigkeit, die Vergangenheit wegzuschlagen. Alles was vorher war, das hat doch sehr belastet. Ob das Picasso war, Schmidt-Rottluff oder Nay, das musste in erster Linie erst mal weg. Sicher, später kam ich dann wieder darauf zurück, aber auf einer ganz anderen Basis. Das Neuland, das Wagnis, sich einer neuen Sache auszusetzen, das ist damals der entscheidende Schritt gewesen.(...) Schultze und ich, wir waren die ersten in Deutschland, die das machten.“4
Das Jahr 1952 ist für Otto Greis besonders schöpferisch. Er entwirft neben „Claude“ noch zehn weitere große Leinwandbilder. Hervorzuheben sind z.B. „Die Hexe“, „Paar“ und „Blauer Aufbruch“, die der Künstler anlässlich der Quadriga- Ausstellung im Dezember 1952 in der Zimmergalerie Franck zeigt. Bereits im Oktober 1952 erscheint in der französischen Zeitschrift „Premier bilan de l´art actuel, ein Text zum Künstler und eine Abbildung von „Agonie“, das er im März/April des Jahres gemalt hat.
Die informellen Werke von Otto Greis beeindrucken durch ihre ausgesprochene Dynamik. Der Künstler beherrscht die Klaviatur farbimmanenter Wirkungen. Aus einem farblich vielfach überlagerten Grund, leuchten z.B. hellste Farbflecken hervor, die den Blick des Betrachters an sich binden und zugleich durch das pulsierende Farbenmeer leiten. Farbpolaritäten, wie Leicht-Schwer, Warm-Kalt, Hell-Dunkel, nutzt der Künstler um „dimensionslose“ Bildräume zu entwickeln. Als „implosive Tiefenschichtung der Farbmassen“5 charakterisiert Christa Lichtenstern diese Oberflächenstruktur, die immer wieder Durchblicke auf tiefer gelegene Farbschichten freigibt. Die Vernetzung der Farben, ihre fortwährende Übergänglichkeit lässt eine entsprechende dynamische Bildräumlichkeit entstehen. Otto Greis, wendet sich zwar von künstlerischen Vorbildern ab und räumt dem Zufall und dem Experiment Platz ein, aber er verfolgt malerisch weiterhin seine Auffassung vom Bild als eigenständigem Organismus bzw. „Bildraumkörper“6. Seine tachistischen Werke zeugen von einer Auseinandersetzung mit den Bildmitteln, die seine gesamte Aufmerksamkeit fordert. Im Gegensatz zu Künstlern, die sich dem Surrealismus verpflichtet fühlen, lehnt Greis daher für sich die Idee eines Automatismus ab.
Mit dem Werk „Ikarus“, im epischen Querformat von 118 x 180 cm, gelingt Otto Greis 1953 ein Hauptwerk des deutschen Informel. Vielfach ist von der kosmischen Anmutung dieses Bildes gesprochen worden. Dieser Eindruck resultiert aus dem Zusammenspiel von intensiv leuchtenden Blautönen und einer Oberflächenbeschaffenheit, die von zahlreichen Zerstörungsprozessen und Übermalungen zeugt. Auf der Einladungskarte zu Otto Greis’ Einzelausstellung 1962 in der Kunsthalle Mannheim heißt es: „Der Künstler arbeitet wie folgt: Er legt die mit Reispapierfaser präparierte Leinwand auf den Boden und ließ von oben Ölfarbe, Ei-Emulsion und Asphaltlack darauf tropfen. Das Ergebnis ist durchaus kein zufälliges, in der Anordnung der Farben erkennt man vielmehr eine ausbalancierte Verteilung. (...) Greis betitelt sein Werk ‚Ikarus’. Dieser wollte, der griechischen Mythologie nach, bis zur Sonne fliegen. So wie hier im Bild muß sein Erlebnis des Kosmos gewesen sein.“7
Otto Greis letztes informelles Leinwandbild, bezeichnenderweise „Semeles Abschied“ genannt, entsteht im August/September 1953. Danach verarbeitet der Künstler noch ein Jahr lang seine gesammelten bildnerischen Erfahrungen auf Papier. In diesen Gouachen ist die Farbigkeit zurückgenommen und die Geste tritt als bildbestimmendes Element in den Vordergrund. Eine kunsthistorische Würdigung dieser expressiven Blätter steht bislang noch aus.
Für Greis bedeutet das Informel nur eine kurze Experimentier- und Befreiungsphase, „ein Sprung ins unbekannte Wasser, mit dem Bewusstsein schwimmen zu können, um auch wieder an das unerlässliche Land zu kommen“8, wie der Künstler es 1983 rückblickend formuliert. Frühzeitig erkennt er die Gefahr der Anonymität, zu der diese Arbeitsweise führen kann. Ende der 50er Jahre, als sich das Informel sozusagen als „Malstil“ auch in Deutschland durchgesetzt hat, wird dieses Problem offensichtlich. 1958, als Otto Greis bereits in Frankreich lebt, versucht er auf die immer wieder kehrende Frage, weshalb er sich malerisch neu orientiert hat, zu antworten: „Gegen die Form, die andere uns auferlegt haben, richtet sich unsere Auflehnung: das Anerkannte in Frage zu stellen – doch ist das Revolutionäre, wenn es sich in der Arbeit einstellt, nur die erste Stufe auf dem Wege der Gestaltung. Seine Vollendung steht außerhalb der Betrachtung. Damit will ich die Bedeutung, die diesem Beginn zukommt und gleichzeitig das Unzureichende dieser untersten Stufe der Gestaltung näher bestimmen. Revolutionen sind notwendig; sie machen, wie überall in der Natur einen Keim frei. Darin liegen ihre Bedeutungen und ihre Begrenzungen. Reine Entladungen (Naturalismus des Zufalls in Schleudermanier) kommen über die Feststellung einer Tatsache nicht hinaus. Von hier aus Brücken der Rechtfertigung zu den gegenwärtigen physikalischen Erkenntnissen zu schlagen, würde nur auf eine Wertung im Sinne der Brauchbarkeit von Malerei verweisen.
Auch das Informel kann diese Begrenzung nicht verlassen. Dies zum Verständnis meines bisherigen Weges.“9
Für Otto Greis, der seit Anfang der 50er Jahre regelmäßig Paris als Zentrum der internationalen Avantgarde besucht, wird es immer wichtiger eine eigene künstlerische Position zu beziehen. Mit kritischem Blick erkennt er die zahlreichen Epigonen, die sich der Machart des Informel bedienen, während er selbst ab 1955 nach neuen Gestaltungsmöglichkeiten sucht. Wieder beginnt eine intensive Auseinandersetzung mit der Kunsttradition. Greis besucht regelmäßig den Louvre und das Jeu de Paume. Außerdem trifft er Künstlerkollegen, wie Tal Coat, Van Velde, Le Moal, Ubac, Soulage, um über aktuelle Themen zu diskutieren. Das Informel gibt Otto Greis die Freiheit sich neu zu orientieren und „belastende Vorbilder abzuschütteln“10. Für sein zukünftiges Werk führt es ihn zu der Erkenntnis, dass der Zufall im Bild, als eine „fruchtbare Störung“11 aufgefasst, durchaus produktiv sein kann.
Otto Greis löst sich Mitte der 50er Jahre vom Informel, auf der Suche nach einer eigenen Formensprache, die essentiell mit der Bildaussage verbunden sein soll.
1 Heinz Ohff, Die Quadriga oder die Deutschen fünfziger Jahre, 2. Die Kunst, in: Kat. Frankfurter Kunstverein 1972, o.Pag
2 Brief von Otto Greis an Ursula Geiger, La Frette sur Seine, 13.1.1983, zit. n. U. Geiger, Die Maler der Quadriga und ihre Stellung im Informel, (Diss.), Nürnberg 1987, S.75
3 Brief von Otto Greis an Arnulf Herbst, La Frette sur Seine, 26.5.1984, zit. n. Kat. Landesmuseum Mainz, Otto Greis. Retrospektive zum 75. Geburtstag, 1989, S.17
4 Interview Otto Greis/Barbara Auer, 1996, Kat. Otto Greis, Kunstverein Ludwigshafen a.Rh. e.V., 1996, S.9
5 Christa Lichtenstern, Strahlungsmacht Bild, In der Nachfolge Cézannes: Otto Greis wird achtzig, in: FAZ, 28.9.1993, S.35
6 Brief von Otto Greis an Kh. Gabler, 1960, zit. n. Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd.4), Aachen 2002, S.26
7 Einladungskarte mit Abbildung von „Ikarus“, 1953, zur Einzelausstellung in der Kunsthalle Mannheim, 1962, bezeichnet mit B.O.
8 vgl. Anm. 2, Brief von Otto Greis an Ursula Geiger, 1983, S.75
9 Otto Greis, November 1958, abgedruckt in: Blätter und Bilder, Nr.10, Sept./Okt. 1960, S.72
10 vgl. Anm. 3, S. 17
11 vgl. Anm. 3, S.17