1970 - 1986

Anfang der 70er Jahre beginnt Otto Greis, nach zahlreichen Studien in Bleistift und Aquarell, in seinen Leinwandbildern eine neue Farbe- und Formensprache zu entwickeln. Ausschlaggebend mag dafür eine Veränderung seiner Lebens- und Arbeitsituation gewesen sein. Er kauft sich 1969 einen Motorsegler und befährt gemeinsam mit seiner Frau Margaret Bolza-Greis das Mittelmeer. Christa von Helmholt entwirft einen anschaulichen Eindruck von den Bootsreisen des Künstlerpaares: „Und jeden Sommer leben Otto und Margret Greis auf ihrem Hausboot auf dem Mittelmeer. Puerto Andraitx auf Mallorca und Alicante an der spanischen Küste sind dann für sechs Monate ihre Heimathäfen. Von da aus fahren sie hinaus aufs Meer, Piraten, die nach den Sensationen des Lichts jagen.“1

Die Farbpalette des Künstlers wird hell und licht. Die Grau-, Braun- und Grüntöne der vorangegangenen Jahre sind in den neuen Kompositionen nicht mehr zu finden. Auf diesen deutlichen Farbwechsel angesprochen, erläutert Otto Greis 1974: „Die Mittelmeerlandschaft und die damit verbundenen optischen Erlebnisse, haben bei mir eine Licht-Farbkonzeption zur Reife gebracht, die schon vorhanden war und in der Île de France entstanden ist. Vorbereitet wurde sie durch Reisen nach Italien zu den Werken von Piero della Francesca, Antonello da Messina und Bellini, in den Jahren 1961 und ‘62. Durch das südliche Meer entdeckte ich also etwas für mich auf meine Weise neu, was schließlich schon vorgebildet war. Ich fand meine Welt, meine Vision, irgendwann treffen wir auf unser Bild, ich möchte dies die Begegnung mit der Imago nennen.“2

Der Brief verdeutlicht, dass die äußeren Gegebenheiten auf die Bildgestaltung stimulierend wirken, entscheidend aber die Sensibilität des Künstlers ist.

Die gebrochenen Farbtonvariationen von Gelb, Hellblau, Rosé und Violett, die die Farbgestaltung seiner Werke bis etwa 1987 bestimmen, hat Greis seit Anfang der 60er Jahre durch sein Studium der italienischen Renaissancemalerei, „ein auf uns gekommenes großartiges Erbe der Verzauberung3, wie er erklärt, verinnerlicht. Für den Künstler ist es daher keine konzeptuelle Entscheidung Farben mit Lichtcharakter zu wählen, sondern es entspricht seiner tiefen Affinität für das Licht mit seinen farbigen Phänomenen.

Charakteristisch für die Arbeiten dieser Werkphase ist ein äußert feiner und schichtweiser Farbauftrag. Die diaphane Farbflächenstaffelung lässt immer wieder Arbeitspuren tieferer Schichten hervorschimmern. Diese Malweise führt zu kaum benennbaren Farbmischungen und Modulationen, die mittels ihrer partiellen Intensivierungen den Bildern einen leichten Rhythmus verleihen. Als schwingend, schwebend, man möchte sagen: schwerelos, kann ihre Wirkung beschrieben werden.

Otto Greis’ Konzeption einer „geistigen Farbe“ findet in dieser Werkphase ihren besonderen Ausdruck. Die Beobachtungen des Künstlers in Bezug auf Goyas „Freuden der Nacht“ sind für diese Thematik aufschlussreich. Bevor er 1973 zu einem Schiffstörn ins Mittelmeer aufbricht, formuliert er folgende Zeilen: „ Meine Begeisterung für San Florida hat aber noch eine andere Seite, da gibt es eine materielose Farbe, die frei schwebt, schwingt und atmet, mit der eine selbständige Zauberwelt gebaut ist. Eine vergeistigte Farbe, die ein eigenes Leben führt, ohne Bindung an das Sujet.(...) und erleben Sie, was die Farbe macht, ihre Rhythmik, ihre Entfaltung, ihren Gang zur höchsten Steigerung und wo sie dort dann ihren eigenen Ruf oder ihren Gesang aussendet. Hier beginnt die moderne Malerei (...), die Loslösung vom Sujet, die vergeistigte Farbe als bildnerisches Mittel an sich.4

Die Ordnung, die Transparenz und die Durchdringung der Farben bilden damit die Voraussetzung für dieses optische Phänomen der Immaterialität, dass für Otto Greis zugleich über die rein sinnliche Anschauung hinaus weist. „Der immaterielle Vortrag der Farbe“, erläutert er 1995 in einem Gespräch, „verweist auf eine Geistigkeit beziehungsweise auf etwas Immaterielles. Die Farbe erscheint durch die Farbordnung selber materielos. Man vergisst, daß es Farbe ist.“5

Diese spezielle Farbgestaltung lässt den Betrachter die künstlerische Idee von einer schwingenden bzw. „atmenden Bildoberfläche“, die nicht mit der Leinwand identisch ist, sinnlich erfahren.

Otto Greis’ Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte, die sein Leben lang anhält, führt ihn zu der Frage, worauf die Wirkkraft von Bildern unterschiedlicher Epochen beruht. „Nicht weil da ein Engel gemalt ist, berührt es uns, sondern ein bedeutsames Formereignis, verbunden mit einer geheimnisvollen Farbe, trifft uns6, konstatiert der Künstler 1973.

An der romanischen Malerei und Bauplastik Frankreichs verfolgen Otto und Margaret Greis die Gestaltungsprinzipien von Fläche und Form. Sein Fazit lautet: „Die genetische Form wurde mir in den Jahren 1959/60 bewußt durch die intensive Beschäftigung mit der romanischen Kunst in Frankreich.

Hier begriff ich das WESEN der Form, nämlich dass die Form immer Träger des Ereignisses sein sollte. Wenn z.B. in einem Relief in Autun die drei Könige schlafend liegen, so ist es die Form, die liegt und schläft, und somit drückt die Form ihr Wesen aus.7

Giottos Fresken beeindrucken den Künstler nachhaltig. Greis sieht in ihnen den Dualismus von Fläche und Raum dahingehend gelöst, dass Farbflächen zum konstituierenden Element des Farbraumes werden. Bereits 1960 betrachtet Greis „die Verwandlung eines haptischen Empfindens in ein optisches Phänomen8 als Aufgabe und zugleich Kernproblem der Malerei. Durch alle Schaffensphasen hindurch, die sich äußerlich sehr unterscheiden, verfolgt er diese Idee, für das haptische Empfinden eine farbige Sensation zu entwickeln. Greis formuliert: „In der Malerei ist die dritte Dimension oder das, was auf Raum verweist, eine Flächenquantität, dabei ist es gleich, ob es sich um Atmosphäre (denken Sie an die meisterhaften Durchblicke zwischen den Bäumen bei Watteau) oder um eine feste Form im Bilde handelt, beides sind Flächenquantitäten, die verankert sind im autonomen Gestaltungssystem und Bildgefüge, sonst entstehen ‚Löcher’ in der Bildebene.(...) Vor meinem Auge sehe ich die großartige bildräumliche Ordnung eines Poussin, die schwingenden Passagen eines Rubens oder Delacroix’, oder Cézannes Tektonik und viele mehr (...).9

Greis’ kunsttheoretische Betrachtungen und seine optischen Erlebnisse auf den Bootsreisen, lassen ihn in den 70er und 80er Jahren zu einem Bildaufbau finden, der von einer ganz eigenständigen Form- und Raumauffassung geprägt ist. Aufschlussreich sind folgende Bemerkungen des Künstler von 1982: „Die Passagen der Pläne, also die Übergänge, die das Auge unmerklich von einem Plan innerhalb des Bildraumes zum anderen wandern lassen. Für mich haben diese Passagen besondere Bedeutung, Passagen, die durch die Organisation auf der Bildfläche alle Formteile zu einem einheitlichen Formereignis, zu einer Bildform zusammenschließen. Weiterhin sind wesentlich die Bildtiefen, die wie in die Fläche eingetriebene Fugen erscheinen, Schlüsselpunkte, von denen die Funktion eines ‚Anrufes’ ausgeht: Das Bestimmte ruft nach dem Unbestimmten und umgekehrt. Der Reichtum der Variationen dieser Fugen in ihrer Vielgestalt überläßt mich einer Formbildung etwa analog dem Wachsen in der Natur, in der ja Form und Wesen eins sind. Ein gewisses Nacherschaffen der treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen, eine Kunstnatur parallel zur Natur, die uns umgibt. Hier liegt für mich der ‚gestalterische’ Ansatzpunkt wie ein strenger Kanon zu meiner abstrakten Malerei.(...) Form als Anruf (...), Form, die uns erst bewusst wird, indem wir ihr Entstehen auch in uns nachvollzogen und somit aufgenommen haben.“10

Wie kann das Wesen der subtilen Formmodulationen in Greis’ Bildern, die sich aus einer entsprechenden Farbbehandlung ergeben, definiert werden?

Die Zurückführung von Formen auf bloße Andeutungen von Formen, auf nicht genau differenzierbare Formmodule, ruft den Eindruck eines fortwährenden gestalterischen Prozesses hervor. Greis lässt Bildformen entstehen, die sich im „Werden“ oder „Vergehen“ befinden. Dies entspricht einer „genetischen Formbildung11, wie sie der Künstler 1974 definiert hat.

Die geradezu synthetische Beziehung der Bildelemente untereinander, entspricht der künstlerischen Intention, mit der farbgebundenen Form- und Raumgestaltung auch die Lichtqualität der Bilder herauszuarbeiten. Otto Greis: „Um mein ‚Imago’ von Licht zu realisieren, brauche ich die Form, sie fängt es ein, an ihr wird das Licht ebenso Formteil wie sie selbst, es wird zu einem Strukturelement, ich bekomme das Licht sozusagen in den Griff.“12

Die „flüchtigen“ Lichträume kennzeichnet eine „Unabschließbarkeit der Farb-Relationen13. Daraus entwickelt sich eine dynamische Raum- und Lichtstruktur, die als unendliches Kontinuum wahrnehmbar ist. In diesem Sinne dürfen die Werke ab 1970 als Metamorphosen des Lichts interpretiert werden, als bildliche Äquivalente zu einer in immerwährender Entwicklung und Verwandlung begriffenen Natur.


















1 Christa v. Helmholt, Sieg der Kunst über die Widrigkeiten des Alltags, Wo die Maler der `Quadriga’ geblieben sind (I) – Atelierbesuch bei Otto Greis, FAZ, 10.8.1982

2 Brief von Otto Greis an René Drouin, 1974, zit. n.: Kat. Otto Greis. Retrospektive zum 75. Geburtstag, Landesmuseum Mainz 1989, S.13

3 Brief von Otto Greis an Ulla Siegert, Alcudia de Guadix, 1.11.1995, zit. n.: Ulla Siegert, Otto Greis. Farbe – Form – Licht. Werkverzeichnis der Gemälde 1945 – 1995, Schriften zur Kulturwissenschaft, Bd. 26, Hamburg 1999

4 Brief von Otto Greis an die Malinche-Crew, La Frette sur Seine, 9.5.1973, zit. n.: Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd.4), Aachen 2002, S.31

5 Gespräch Otto Greis/Ulla Siegert, 27.2.1995, ebd., S.32

6 vgl. Anm. 4, ebd., S.31

7 Brief von Otto Greis an René Drouin, La Frette sur Seine, 19.11.1974, ebd., S.34

8 Brief von Otto Greis an Karl-Heinz Gabler, 23.10.1960, zit.n. Kat. Otto Greis. Retrospektive zum 75. Geburtstag, a.a.O., S.8

9 Brief von Otto Greis an Ulla Siegert, 25.12.1995, ebd., S.37


10 Brief von Otto Greis, La Frette sur Seine, Dezember 1982, zit. n.: Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie, a.a.O., S.48

11 vgl. Anm. 7

12 Brief von Otto Greis an René Drouin, vgl. Anm.7

13 Holger Broeker, Farbraum und Bildzeit. Zur Bildkonzeption der Stilleben Jean Siméon Chardins, in: Idea, Werke-Theorien-Dokumente, Jahrbuch d. Hamburger Kunsthalle, Bd.X, Hamburg 1991, S.106