Werner Haftmann
Einige Jahre waren ins Land gegangen, ehe ich im Dezember Otto Greis und seine Bilder wiedersah. Ich hatte keine Sorge vor dieser Begegnung. Seitdem ich diesen jetzt 64jährigen Maler vor mehr als 25 Jahren, damals noch in seinem heimatlichen Frankfurter Umkreis, kennengelernt hatte, konnte ich auf seine Beharrlichkeit in der Lösung seiner bildnerischen Fragestellungen vertrauen. Sie bewahrte immer etwas von der behutsamen, methodischen Folgerichtigkeit des Ingenieurs, als der er begann, auch dann, wenn sich das Ziel solch überlegsamer Klarlegung der Ausdrucksmittel und ihrer Anordnung schließlich als reinster Lyrismus auswies.
Dennoch war ich neugierig. Aus zwei Gründen: - einmal wollte ich sehen, was aus einer Malerei geworden war, die zu Beginn der fünfziger Jahre mit der ersten, breiten Welle des internationalen Informel einsetzte und dann in einem langsamen Vorgang formaler Zügelung die ursprünglich spontane Ausdrucksgestik in ein festeres Ordnungsgefüge einzubringen suchte; - zum anderen interessierte mich die Wirksamkeit eines bestimmten visuellen Erlebniskreises, den sich Greis – vorhersehbar oder nicht – ausgesucht hatte. 1957 nämlich war er nach Frankreich übergesiedelt, nachdem er seit 1951/52 immer wieder nach Paris gereist war. Aber er blieb nicht in der Stadt. Als ich ihn einige Zeit nach seiner Umsiedlung wiedersah, hatte er ein kleines, sehr poetisches Haus bezogen, unmittelbar an der Uferstraße von La Frette, 16 km nordwestlich von Paris an der Seine gelegen. Vor den Fenstern des kleinen Malraumes unter dem Dach schlang sich die riesige Schleife des Flusses, der auf der gegenüberliegenden Seite eine Art Halbinsel angespült hatte, die ein dichter Baumbestand rahmte. Die ganze Landschaft war erfüllt von diesem großen Wurf des Flusstales und seine Atmosphäre aus silberndem Licht. Greis hatte sich ein kleines Motorboot zusammengespart; vergnüglich fuhren wir durch ganze Vorhänge von Licht vor der straffen Kulisse des waldigen Ufers, bis die abendlichen Nebelschimmer das schöne Schauspiel im sanften Grau ersterben ließen.
Immer noch wohnte Greis am gleichen Flusshang von La Frette, jetzt im neuen Atelierhaus und auch ein wenig höher am Hang mit weitem Blick auf die Sensationen der großen Stromschleife. Auch das kleine Boot ist durch ein stattlicheres ersetzt, und der Jagdgrund für visuelle Abendteuer ist nicht mehr allein die Seine, sondern vor allem das gleißend-große Meer vor der Ostküste Spaniens und um die Inselwelt der Balearen. Seit Jahren hält er sich dort den ganzen langen, mediterranen Sommer hindurch auf seinem Malboot auf. Er weiß schön davon zu erzählen – mit dem geheimen Stolz des Ingenieurs auf Navigationsgeräte, Motoren und Segel und mit der Ergriffenheit des Malers, der in dieser großen Natur oftmals Entsprechungen zu seinen formalen Unternehmungen (- die ihm freilich nur den Seitenblick auf diese Natur erlauben -) als Bestätigung erkennt.
Um die Sache mit La Frette recht zu begreifen, muß man etwas von dessen kunstgeschichtlicher Ortung wissen. Es war nämlich im gleichen Seinebogen zwischen Argenteuil und La Frette, wo die Impressionisten einiges von der entmaterialisierten, a-perspektivischen – sagen wir - >>halluzinatorischen<< Bedeutung des Naturlichts erfuhren: die Wandlung nämlich vom Beleuchtungslicht zum Bedeutungslicht, die dem natürlichen Licht nicht alleine eine gewisse darstellerische Selbständigkeit zuerkannte sondern es auch bereits als Konstruktionselement innerhalb der formalen Bildorganisation zu verstehen begann. Hier nämlich trieb Claude Monet auf seinem Hausboot herum und entdeckte die vergleichsweise >>phantasmagorische<< Qualität, die das Naturlicht auch haben konnte. Hier fand Renoir in seinen Bildern von der >>Grenouillère<<, einem beliebten Ausflugslokal der Seine-Ruderer, eine eigentümliche, durch die Fülle der Lichtreflexe verursachte Verschränkung der Pläne, die die perspektivische Abfolge von Vordergrund – Mittelgrund – Hintergrund verstörte und einem mehr a-perspektivischen, vom Farblicht bewegten Flächenraum nahe legte. In La Frette selbst hatte Marquet Jahre seines Lebens verbracht und aus dessen Stimmung die ruhige, im lichten Grau gebrochene Flächigkeit seiner nach-fauvistischen Bilder abgehoben. Man kann sagen, dass durch diese bestimmten Momente optischer Erfahrungen der Impressionismus sich auf Cézanne zuzubewegen begann. Nur richtete sich Cézannes Aufmerksamkeit verstärkt auf die selbständige Organisation des Bildleibes, die die Hinweise der Natur als Bauelement eines in sich abgeschlossenen formalen Organismus nutzte, zum Aufbau eines kristallinen Gitters, aus dem der in der Natur verborgene harmonikale Hintergrund als Antwort des menschlichen Geistes auf die Sensationen der Natur zurück reflektierte – jene von Cézanne gesuchte >>Harmonie parallel zur Natur<<.
Werfen wir jetzt einen Blick auf die Bilder aus dem Greis´schen Atelier von La Frette, so werden wir sogleich die Nähe zu den Veranstaltungen des Lichts über dem Silberband des bewegten Stromes bemerken, so wie auch eine nachklingende Affinität zu den Lichtapotheosen der genannten Meister, insbesondere zum späten Monet. Zugleich, aber auch eine kristallinische Organisation der Formen, ein welliges, die Oberfläche buchtendes und immer wieder zur Fläche zurückkehrendes Vor und Zurück der Massen und Pläne, eine aus der farbigen Fläche entstehende, vom Naturlicht unabhängige, selbständige Führung des Lichts, die wiederum die Erinnerung an Cézanne auslöst.
Schon um 1960, bald nach dem Einzug ins Haus von La Frette, konnte man diese Verfestigung bemerken, wobei besonders das Licht seinen huschenden, unbestimmten Charakter verlor und sich zu transparenten Strukturen zusammenschloß, deren Leitform das Strahlenbündel wurde. Das lag auf der Linie jenes >>Festmachens der Atmosphäre<<, von der die Futuristen und Delaunay gern gesprochen hatten und die Cézanne schon vorgezeigt hatte. Das Licht verlor seinen naturalistischen Auftrag als Beleuchtung. Es wurde zum reinen Bildinnenlicht und damit zu einem selbständigen Element der Konstruktion, des Dekors und des Ausdrucks. Um seinen Transparenzen das unbestimmte Atmosphärische zu nehmen, das die Ölfarbe mit ihren Lasuren gerne nahe legt, erfand sich Greis ein eigenes Malmittel aus Kunstharz und Kasein, das der Oberfläche einen gewissen Fresko-Charakter gab, der sie zwar fest, trocken und mauerartig machte, aber die Transparenz nicht verhinderte. Die Farbe, die für den Maler das vorwiegende Äquivalent des Lichts ist, hielt sich in der Vorliebe für Grau, Grün, Blau gern auf der kühlen Skala. Dieser Farbklang schien der Farbstimmung über der Seine-Schleife zu entsprechen. Er veränderte sich gegen 1970. Jetzt bewegte er sich mehr auf der warmen Skala: lichter Ocker, Rotviolett, ein golden einbrechendes Gelb. Man möchte meinen, dass ein mediterraner Klang in die neueren Bilder geraten sei. Da läge es nahe, an die jährlich sich wiederholenden, monatelangen Segeltörns des Malers im spanischen Meer zu erinnern, deren Sensationen ins Bild hineinschienen. Gindertael, der französische Kritiker, hat sein schönes Vorwort zu einer Greis-Ausstellung von 1974 in der Pariser Galerie Roque mit dem Titel überschrieben >>Entre le ciel et l´eau ... la lumière<< und in diesem Text seine Gedanken bei der Betrachtung der Bilder gut und knapp zusammengefasst: aus dem Erlebnis von Himmel und See die antwortende Apotheose des Lichts.
Doch hier ist zugleich ein Vorbehalt anzumelden. Tatsächlich geht Greis nie von einem bestimmten landschaftlichen oder marinen Motiv aus. Er hat niemals auch nur den Versuch gemacht, irgendeine dieser aufleuchtenden Schönheiten der mediterranen Welt bildhaft zu reproduzieren. Auch die bewegten, scheinbar atmosphärischen Erscheinungen in seinen Bildern gehen nie auf ein einzelnes, bestimmtes optisches Erlebnis zurück. Vergleicht man seine Bilder mit denen Turners, der nun wirklich aus Himmel und See das Drama des Lichts entfaltet, so gewahrt man sehr deutlich, dass Greis mit einer gewissen Sprödigkeit alle dramatisch expressiven Elemente zurückdrängt. Sein Element ist das Lyrische, das sich in diesem sanften Versmaß bewegt – ja, sich in diesem Versmaß erst entwickelt. Sein Bild entsteht im Machen. Es hält auch immer eine genaue Verbindung zum Bild, das vorher entstanden war. Es ist als abgeschlossenes Gebilde da, bewahrt aber den Prozeß seines Entstehens und zeigt das künstlerische Kontinuum, in dem es seine Wurzeln hat. Das alte Wissen, dass Kunst aus Kunst – und weniger aus >>Natur<< - entsteht, teilt auch Greis. Er gehört keineswegs in die Linie von Bazaine oder Le Moal – obwohl er sich ei seinen Pariser Aufenthalten mit ihnen bekannt machte -, die das Bild als ins Abstrakte gespiegelte Analogie zum Naturerleben ansahen. Er sieht es vielmehr als ein Ergebnis eines Impulses von innen von großer Spontaneität, der seinen Ursprung eher in der Reihe der vorangegangenen Bilder findet als in einer vorerlebten Sensation. Natürlich kann ein Maler, dessen ganzes Sensorium auf das Schauen ausgerichtet ist, nicht absehen von dem, was das Auge täglich in ihn einträgt. Nur in dieser Weise sind die vermuteten Angleichungen an jenen >>visuellen Erlebniskreis<< zu verstehen: als ein ins Unbewusste abgesunkenes Bildgut, als ein die Regungen im Menschen durchtränkendes Fluidum, das auf der Leiter des bildnerischen Versmaßes – sozusagen unvermutet – mit nach oben steigt und sich in die Bildfläche einschiebt. Die Entstehung des Bildes, sein auslösender Impuls, hat also durchaus etwas mit dem Automatismus zu tun, doch wird dieser gesteuert durch das Versmaß der geordneten Form, das sich von Bild zu Bild entwickelt. Um diesen komplizierten Vorgang anschaulich zu machen, ist es notwendig, die Entwicklung dieses Malers zu betrachten.
Greis, der nach dem Kriege sich ausschließlich der Malerei widmen konnte, fand in E.W. Nay, der sich nach dem Krieg, damals 45 Jahre alt, in Hofheim im Taunus niedergelassen hatte, einen wichtigen Freund. Diese Begegnung war eine gute Lehrzeit für Greis. Erst als Nay – 1949 – angeregt durch die Malerei von Juan Gris, den Bildraum in harte Flächigkeit verspannte und die Form härtete, entzog sich Greis seiner Gefolgschaft.
Fortab malte Greis für sich. Es war die Zeit seines entscheidenden Umbruchs, auf dessen Ergebnissen seine ganze Malerei aufbauen sollte. Die ersten Ergebnisse waren in der Einzelausstellung im Mai 1952 in der Frankfurter Zimmergalerie zu sehen und dann noch im Dezember 1952 in einer Sammelausstellung von vier jüngeren Malereien: Götz, Kreutz, Schultze. Ursprünglich wollten sie sich >>Neu-Expressionisten<< nennen; erst während der Ausstellung stellte sich der Name >>Quadriga<< ein. Die Bezeichnung >>Neu-Expressionisten<< traf ungefähr den Sachverhalt, sofern man annehmen wollte, dass dieses >>Neu<< darauf hinweisen sollte, dass sich diese Maler auf dem Felde des Abstrakten bewegten. Tatsächlich waren ihre Bilder von einem starken expressiven Pathos erfüllt. Auch die von Greis zeigten diese Spontaneität im Malakt, jene psychische Selbstentäußerung durch eine enthemmte aggressive Gestik, in der dunkle Bogenschwünge auf wabernden Gründen unbestimmte Figurationen entstehen ließen, deren Bedeutung sich zwar punktuell nicht ausmachen ließ, die dennoch eine starke suggestive Kraft hatte im Sinne von Psychogrammen eines tief beunruhigten Gemütszustandes. Nachträglich gesehen, bemerkte man freilich, dass die Lichtphänomene bei Greis eine größere Rolle spielten, als bei anderen Malern der Gruppe, dass Sternfelder, aufglühende novae, spritzende Lichtfontänen die Ausdrucksfunktion des graphischen Strich- und Balkenwerkes überspielten. Auch die Farbe war leuchtender und blühender und fügte der dramatischen Geste ein lyrisches Element hinzu. Die Bilder trugen Titel, wie >>Herz der Steinblume<<, >>Hexe<<, oder – ein wenig später - >>Ikarus<<. Sie trugen wenig zur Sache bei; sie waren nur Wortmetaphern, wie sie auch Nay verwandte, der gern ganz abstrakte Kompositionen mit mythologischen Namen schmückte. Aufzeichnungen aus der psychischen Schicht suchten sie mit gestischen Spuren, dick gemauerter Farbmaterie und spritzendem Flechtwerk der Farbe eher jenen Ahnungen nachzusinnen, die uns beim Betrachten schrundiger Mauern, glimmender Asche oder auch beim Blick auf Wolken oder ins Sternenzelt überkommen und die durch >>Künstlichkeit<< der Herstellung in dieser oder jener Richtung bildhaft kanalisiert werden können. Diese Assoziationen setzen uns auf die Spur, woher der Anstoß kam. Er kam aus Paris und hatte internationale Breite. Dort hatte sich in den Jahren zwischen 1945 und 1950, neben allerlei Richtungen des Spätkubismus und eines abstrahierenden Naturlyrismus, eine vergleichbare Malweise durchgesetzt mit Dubuffet, Fautrier, Michaux und Wols, die René Drouin in seiner prächtigen Galerie am Place Vendôme schon gleich nach dem Krieg gezeigt hatte. Die Galerie Allendy fügte bald Hans Hartung und Georg Mathieu hinzu. Die Stilbezeichnung, die die begleitende Kritik aufbrachte, hießen: >>Art informel<<, >>Abstraction lyrique<< oder noch allgemeiner >>Art autre oder gar >>Tachisme<<. In den USA hatte sich gleichzeitig – mit Pollock, Tobey, Motherwell u.a. – eine ähnliche Erscheinung gezeigt. Mathieu hatte die Verbindung hergestellt und in der von ihm betreuten Ausstellung >>Vehemences cofrontées<< die Ähnlichkeit der beiden Bewegungen anschaulich gemacht. So gerieten jetzt auch die Stilbezeichnungen der amerikanischen Kritiker - >>Abstract Expressionism<< oder >>Action Painting<< - ins europäische Spiel. Es ist hier nicht der Ort über ihre Berechtigung zu streiten. Nimmt man alle zusammen, so ergeben sie in
wechselseitiger Erhellung ein gewisses Bild dieser neuen Richtung. An ihr fand auch Greis, der bei seinen ersten Reisen nach Paris auch René Drouin, den frühesten Pariser Promoter der ganzen Richtung, kennengelernt hatte, seinen Anstoß. Als Drouin im Frühjahr 1955 im Pariser >>Cercle Volney<< die sehr beachtete Ausstellung >>Nichtfigurative Malerei in Deutschland<< einrichtete, war selbstverständlich auch Greis vertreten, wie er auch in den Ausstellungen der Kunsthallen in Wiesbaden und Mannheim 1957, die der >>informellen<< Richtung galten, seinen Platz hatte.
Doch hatten wir schon bemerkt, wie sich in diesem allgemeinen Stilbild bestimmte Besonderheiten der Greis´schen Auffassung durchsetzten. Sie verstärkten sich zunehmend und führten ihn bald aus diesem Gruppenstil hinaus. Machte ihn dieser allmähliche Rückzug aus der Kameraderie seiner deutschen Malerfreunde auch einsamer (und ließ ihn die Ausstellungspolitik der Maler und Kritiker ihn dies auch merken), so entsprach diese Absetzbewegung doch seiner persönlichen Haltung, die eher zurückhaltend, selbstbezogen, introvertiert ist. Sie half ihm auf den eigenen Weg.
Schon 1954 setzt eine Serie von schmalformatigen Malereien auf Japanpapier, die die dickhäutige Materie durch einen durchsichtigen, lichthaltigen, kostbaren Farbgrund ersetzte, auf dem ein improvisierender heller Strich Figurationen entwarf, die wie helle Sternenbilder eines erfundenen Zodiakus aussahen. Sie leiteten über zu einem Bilderkreis, der 1956 begann und den Greis – aus welchen Gründen auch immer – die >>Tuareg-Serie<< nannte. Es sind festgefügte, meist dunkelgründige Ensembles von massigen Formen, die den dämmernden Grund in einer strafferen Planordnung bestimmen und durch Strahlenbündel bewegen. Manchmal – wie im >>Orakel<< von 1956 – scheint aus dem magisch durchleuchtenden Grund eine exotische Formenwelt hervorzusehen, die den merkwürdigen Titel der Serie begründen könnte. Greis ist noch heute ein eifriger Besucher des >>Musée de l´homme<<, der aufregendsten Völkerkundlichen Sammlung der Welt; von daher mag ihm die Inspiration zu manchem dieser Bilder gekommen sein.
1958, Greis war inzwischen endgültig nach Paris übergesiedelt, beginnt wieder eine Art Zwischenspiel – diesmal ist es eine lange Reihe von Aquarellen auf Japanpapier. Sie sind ganz gelöst und lassen die dumpfen Evokationen der Materie endgültig hinter sich. Auf lichtem Grund in duftiger, dünnbesetzter Farbe entfaltet sich über dem rhythmischen Takt von Kreisformen ein tänzerisches Spiel, das die Gestik der malenden Hand in die Metrik des Formensatzes leicht und selbstverständlich hineinnimmt. Auch die inhaltliche Stimmung zeigt diese Gelöstheit. Die Blätter lassen an Fruchtzweige denken, an die glücklichen Metamorphosen des fruchtbringenden Sommers. Hier ansetzend, beginnt um 1960 – und schon im kleinen Haus am Uferrand von La Frette – jene erste Reihe von Bildern, die wir eingangs zu beschreiben versuchten und die einen entschlossenen Schritt aus dem geistig zu eng gewordenen Umkreis des >>Informel<< bedeuten. Die Bilder werden ganz licht. Ihr weißer Grund gibt das Spielfeld, auf dem dünnflüssige, gedämpfte Farbpassagen im leichten Atmen der Fläche dem Auge Wege einrichten, die durch das empfindliche Gleichgewicht der Farbwerte einem fließenden rhythmischen Muster folgen. Manchmal verstärken Punktkonstellationen den rhythmischen Satz; manchmal sinkt dieser ganz ins Weiß zurück und wird nur im atmenden Auf und Ab der Fläche anwesend. Die Titel - >>Schleier des Pan<<, >>Mirage<<, >>Des Ailes<<, >>Naissance Nacrée<< - bezeichnen metaphorisch recht gut den inhaltlichen Stimmungsrausch dieser Bilder.
Unmittelbar aus dieser Reihe, hervorgehoben in kleinen Entwicklungsschritten, entsteht dann 1962 >>La Clairière<<, >>Die Lichtung<<. Hier wird der Formsatz kräftiger und auch die ondulierende, schmiegsam-schwingende Fläche bindet sich in eine festere Planordnung ein. Jetzt taucht die Erinnerung an Cézanne kräftig auf. Sie bezieht sich nicht auf irgendetwas Punktuelles, sie bezieht sich auf den Kern der Anschauung Cézannes, dass zur Veranschaulichung einer im menschlichen Erlebniskreis empfundenen Harmonie ein strenger metrischer Satz, ein bildnerisches Versmaß notwendig sei. Hatte aber Cézanne aus seiner geschichtlichen Lage in unmittelbarer Auseinandersetzung mit dem gegenständlichen >>Motiv<< den harmonikalen Hintergrund der Natur herauszuzeichnen versucht, so verschiebt sich – 60 Jahre später – für den Jüngeren das motivische Problem ins Abstrakte. Es heißt jetzt : für das harmonikale Erlebnis des Lichts selbst – und nicht für seine Brechungen an den Gegenständen – anschauliche, bildnerische Entsprechungen zu finden. Das formale Problem ändert sich deshalb nicht, es bezog sich immer noch auf die Ausarbeitung einer Metrik, auf deren rhythmischen Stufen der Wahrheitsfindung von der Anwesenheit des Harmonikalen als Bild Anschaulichkeit gewinnen konnte.
So sehen wir, wie Greis in den folgenden Jahren – und bis heute hin – diese Metrik verstärkt und modifiziert, wie er anfänglich die weiche Modulation der Fläche durch kubische Prismenformen kräftig gliedert, dann die Prismen zu kristallinen Massen zusammentreten lässt, schließlich die Figurationen wieder auf die Fläche zusammenzieht und endlich ein räumliches, die Fläche durchatmendes Fluidum erreicht, in dem Farb- und Lichtbahnen die Körperlichkeit der Kristalle ersetzen. Jetzt ist das Bild selbst Kristall, von dessen Grund das Erlebnis des Lichts als harmonikaler Erscheinung verwandelt zurückleuchtet. Das Ziel ist – für die stets wechselnden Veranstaltungen des Helios, die die abertausenden Schauspiele des Wechsels vom Morgen zum Abend hervorrufen, für all die Erhellungen des Lichts eine dichterische Erhellung – das bildnerische Gleichnis – zu finden.
Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück, so sollte jetzt deutlich sein, dass sich diese ganze Entwicklung nahezu ausschließlich auf der bildnerischen und formalen Ebene vollzog in der schrittweisen Ausbildung einer bildnerischen Vorstellung, die sich dann im bildnerischen Tun eine Metrik erfand und zurechtlegte. Wenn dennoch benennbare optische Erlebnisse an der Natur in diese metrischen selbständigen Gebilde einzufließen schienen, so mag sich dies aus der innigen Durchdringung der menschlichen Vorstellungskraft mit den Tatsachen der Natur erklären, die, einmal aufgerufen, auch die abgesunkenen Erinnerungen ins Anschauliche hebt. Doch Ausgang oder Ziel waren diese nicht; sie kehrten auch ganz verwandelt wieder zurück.
Greis ist keiner von jenen stürmischen Geistern, die ihren Überschwang in alle Winde werfen und in der Geschichte dionysische Spuren hinterlassen. Er ist ein bedachtsam arbeitender Mann, der das ihm zugewiesene Thema beharrlich zu erfüllen trachtet ohne Blick auf zeitgenössische Präsenz, auf Ruhm und Genie. Sein Thema heißt: Die Hemmungslosigkeit des Lichts in Form fassen und durch bildnerische Metrik seine Strahlkraft so zu verlängern, dass sie bis in unsere psychische Schicht herüberreicht, damit dann auch die beunruhigende, riesige Atemlosigkeit des Himmels in uns rhythmischen Atem gewinnt. Der schöne Titel Gindertaels >>Entre le ciel et l´eau … la lumière<< kann sehr wohl als Motto über diesen Bildern stehen bleiben. Warum sollten wir uns nicht frei fühlen, in diesen Bildern den optischen und dichterischen Erlebnissen des seefahrenden Malers nachzuspüren? – Auch wenn es nur darum ginge, durch die schweigsame Hermetik dieser Bilder hindurch eine nähere Vertraulichkeit zu ihnen zu gewinnen.
Zitiert nach: Ausstellungskatalog: Otto Greis – Die Feier des Lichts, Kunsthalle Bremen/Staatliche Kunstsammlungen Kassel 1978, o. Pag.