1963 - 1968

Das Jahr 1962 zeugt von einem erneuten malerischem Umbruch. Noch entstehen die hellen, beinahe weißen Bilder, wie z.B. „Naissance nacrée“, an dem Otto Greis vom November 1961 bis in den Mai des Jahres 1962 immer wieder arbeitet. Nebenher beginnt der Künstler mit Malereien, in denen sich deutlichere Formkompartimente artikulieren. Ein großformatiges Bild des Übergangs ist „Clairière“ von 1962. Im Jahr darauf äußert sich die künstlerische Suche in einer kräftigeren Farbpalette und plastisch herausgearbeiteten Form-Raumverspannungen. Ab 1963/64 – die Werke „Ode“, oder „Bois de Luthier“ zeigen es beispielhaft - wirken die Bildtafeln wie Ausschnitte aus einem großen, weit über die Leinwand hinausgreifenden, dynamischem Formgeschehen. Der Bewegungseindruck resultiert aus den vornehmlich in Bahnen sich entfaltenden Farbmodulationen. Kantig, rund, aufstrebend, abwärtsfallend, vollzieht sich auf der Leinwand ein vitales Spiel von Formen, die in keinem Gegenstandsbezug stehen. Das Auge des Betrachters folgt dem Rhythmus der Gestaltung. Die Farbpassagen geben in ihrem Verlauf den Takt an. Das musikalische Element, das aus den Bildern der 60er Jahre spricht, findet anlässlich von Greis’ Einzelausstellung in der Pariser Galerie Synthèse, 1967, in zahlreichen Zeitungsrezensionen explizit Beachtung.1 Otto Greis nimmt seit seinem Umzug in die Île de France am aktuellen Pariser Kunstgeschehen teil. Er besucht die wöchentliche Diskussionsrunde „ligne 4“, geleitet vom Kunstschriftsteller Roger van Gindertael, und knüpft Freundschaften, vornehmlich zu Bildhauerkollegen. Christa Lichtenstern beschreibt: „1962 lernt er im Salon des Réalités Nouvelles den Steinbildhauer Maurice Lipsi kennen. Lipsis subtil organisierte Massenführung berührt ihn als Maler wahlverwandt.(...) An die Stelle von Lipsis Artikulation innerer Strukturen sucht Greis über das ‚superposé’ der Farbflächen die taktilen Werte als optische Sensationen aufscheinen zu lassen. Grundsätzlich interessiert Greis an einer Plastik die Art, wie die Oberflächenbewegungen gehalten sind. Besonders verlockt es ihn, >>ein Relief ‚umzudenken’, d.h. seine räumlichen Ordnungen der Pläne als Flächenbild zu sehen und mehr noch, Passagen zu erfinden und so für das Suggerierte eine Flächenform zu bilden. In der Malerei ist die dritte Dimension oder das, was auf Raum verweist, eine Flächenquantität, dabei ist es gleich, ob es sich um Atmosphäre (...) oder um eine feste Form im Bilde handelt, beides sind Flächenquantitäten, die verankert sind im autonomen Gestaltungssystem und Bildgefüge.<<2

Die Passage, die bereits im Kubismus dazu diente Formen zu öffnen und zu verwandeln, um schließlich eine Verbindung aller Bildteile herzustellen, gibt auch Otto Greis das Mittel an die Hand seine abstrakten Formen- und Raumvorstellungen in einem ununterbrochenen Bildgefüge zu verwirklichen. Die in fortwährender Übergänglichkeit begriffenen Farbtöne und die damit einhergehende Auffächerung des Bildgrundes in zahlreiche Ebenen, lässt an Werke von George Braque und auch Paul Cézanne denken. Die künstlerische Absicht beider Maler zielte auf einen Bildaufbau, der einer inneren Gesetzmäßigkeit verpflichtet ist. Die Bildelemente Farbe und Form sind entsprechend eng auf einander bezogen. Die Bildkonstruktionen Cézannes und auch Braques autorisierten sich zunehmend vom Sujet und leiteten eine Kunstauffassung ein, die der autonomen Bildgestaltung wachsende Bedeutung beimass. Otto Greis knüpft an diese künstlerische Tradition an und erarbeitet in seinen Werken eine „Bildwirklichkeit“, die frei von Gegenstandsreferenzen ist und aus dem mannigfaltigen Bezugssystem von Farbe, Form, Raum und Licht lebt. Vergleichbar mit Cézannes malerischem Bestreben, in seinen Bildern keine „lockere Masche3 entstehen zu lassen, zeigen auch Greis’ Werke eine durchgehende Verknüpfung aller Bildteile. Noch dichter „gewebt“ wirken seine Arbeiten ab 1964/65. Geradezu „fließend“ greifen die Formen ineinander. Die Palette des Künstlers wechselt auf die warme Seite der Farbskala. Herrschten bislang kühle Farbtöne vor, wie helles Grau, mit Weiß gebrochenes Blau, Beige und Grün, dominieren in den Bildern ab 1965 Variationen von Braun und Grün das Bildgeschehen. Das Farbenspiel der Ufervegetationen an der Seine, Loire, an den Flüssen und Kanälen Frankreichs, die Greis mit dem Boot befährt, wirkt anregend. Die Natur bleibt zeitlebens eine Inspirationsquelle des Künstlers, allerdings ohne sich abbildhaft auf der Leinwand wiederzuspiegeln. Die Werke versinnbildlichen vielmehr seine geistige Haltung gegenüber dem Leben und seinen Erscheinungen. Otto Greis: „Der ‚Anruf’, der zum Malen drängt, kann durch einen Laut, einen Duft, eine Linie kommen“. Jedoch: „Beim Kunstwerk handelt es sich (...) nicht darum, einen Vorgang zu erzählen.“ 4

Interessant für die Bildgestaltungen der 60er Jahre sind folgende Erläuterungen, die Otto Greis 1982 formuliert: „ Noch einmal greife ich unser Gespräch auf und die Erinnerung an das, was ich Ihnen an einer meiner Zeichnungen anschaulich machte: Die Passagen der Pläne, also die Übergänge, die das Auge unmerklich von einem Plan innerhalb des Bildraumes zum anderen wandern lassen. Für mich haben diese Passagen besondere Bedeutung. Passagen, die durch die Organisation auf der Bildfläche alle Formteile zu einem einheitlichen Formereignis, zu einer Bildform zusammenschließen. Weiterhin sind wesentlich die Bildtiefen, die wie in die Fläche eingetriebene Fugen erscheinen, Schlüsselpunkte, von denen die Funktion eines ‚Anrufes’ ausgeht: Das Bestimmte ruft nach dem Unbestimmten und umgekehrt. Der Reichtum der Variationen dieser Fugen in ihrer Vielgestalt überlassen mich einer Formbildung etwa analog dem Wachsen in der Natur, in der ja Form und Wesen eins sind. Ein gewisses Nacherschaffen der treibenden Kräfte hinter den Erscheinungen, eine Kunstnatur parallel zur Natur, die uns umgibt.“5

Ganz im Sinne Paul Cézannes, vergleicht Greis die Entstehung eines Kunstwerks mit der Formbildung in der Natur. Er findet in den Werken der 60er Jahre zu einer Formensprache, die in ihrer Übergänglichkeit, diesem Wachstums- und Verwandlungsgedanken Ausdruck gibt. Ganz im Abstrakten, kreiert Otto Greis seine „Harmonie parallel zur Natur6.






1 Vgl. Christa Lichtenstern, Gedanken zum französisch-deutschen Dialog im Werk von Otto Greis, in: Otto Greis, Aufbruch in eine neue Bildwirklichkeit, München 2000, S.23

2 ebda., S.23

3 Joachim Gasquet, Cézanne (Gespräche), Paris 1921, zit.n. Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbeck 1956, S.19

4 Undatierte Äußerungen des Künstlers, zit.n.: Ulla Siegert, Otto Greis. Bildwirklichkeit und Poesie (Über Malerei Bd.4), Aachen 2002, S.

5 Aus einem Brief von Otto Greis, La Frette sur Seine, Dezember 1982, ebd., S.48

6 vgl. Anm.3