Materiebilder

<h4>1957 - 1958</h4>

Mit den Materiebildern, die Otto Greis seit 1956 zunächst experimentell, dann ab 1957 im großen Format erarbeitet, positioniert er sich wieder in der internationalen Kunstszene. Karlheinz Gabler, Sammler und Kunstschriftsteller, formuliert entsprechend: „Farbige Kunstharzmassen, zähflüssig gegossen, mit dem Palettmesser aufgerissen und geformt, rufen die kruden Figurationen vorgeschichtlicher Bewusstseinsstufen herauf. Ungebrochene Farben, verbunden mit urtümlichen Formen, entfalten die Kraft der Fetische einer prärationalen Welt.(...) Er [Greis, Anm.d.V.] kann nun nicht mehr durch die schmale Brille der innerdeutschen Kunstentwicklung gesehen werden.(...) Auch 1956 zeigen seine schweren Emulsions-Materialbilder erst im Zusammenhang mit dem Dänen Asger Jorn und dem Holländer Karel Appel die Bandbreite des europäischen Stilentwurfs.1

Gablers Beobachtungen, die auf eine zu dieser Zeit allgemein verbreitete Tendenz zum Materialbild hinweisen, können als Anregung dienen, Greis’ Werke von 1957 und 1958 im Zusammenhang auch mit deutschen Künstlern, wie etwa Gerhard Höhme und Karl Fred Dahmen, oder den Franzosen Jean Fautrier und Jean Dubuffet zu analysieren. Eine genauere Untersuchung steht bislang noch aus und kann auch im Rahmen dieses kurzen Essays nicht gegeben werden.

Auf der Suche nach Expression und Authentizität integrieren viele Künstler Fundstücke in ihre Arbeiten. Daniel Abadie resümiert : „Ein solches Unternehmen sollte schnell Schule machen und jeder versuchte es auf seine Art mit dicken Pasten, Mörtel oder irgendwelchen Kinkerlitzchen. Ende der 50er Jahre war das Materialbild große Mode, bis es vom Nouveau Réalisme und der Pop Art abgelöst wurde, für die es den Weg frei gemacht hatte.2

Für Otto Greis bedeuten die Materiebilder weiterhin eine „Suche nach Form mit informellen Mitteln“.3 Gegenstände in das Bild einzufügen kommt für ihn nicht in Frage. Sein künstlerisches Ziel lautet, ein Bild ganz aus den der Malerei immanenten Mitteln heraus zu gestalten. Eine im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandslose Komposition herauszuarbeiten, die in ihrer malerischen Hermetik keinen vordergründig erzählerischen Habitus besitzt, und erst in der Wechselwirkung mit dem Betrachter Emotionen oder Erinnerungen wecken kann. Greis’ Ansicht nach, würde jedes eingefügte Objekt, im Sinne eines Fremdkörpers, die bildnerische Einheit aus Farbe, Form und Raum stören.

Die Zunahme der Farbmaterie resultiert aus der Absicht Perspektivwirkungen, wie sie in der vorangegangenen „Tuareg“-Serie in Erscheinung getreten sind, entgegen zu wirken und die 3. Dimension als reine Flächendimension in die Gestaltung einzubinden. „Fast ein expressives Unternehmen, die Ausdruckskraft der Bilder noch zu steigern und gleichzeitig die Fläche noch durch den großen Materialanteil zu sichern“ 4, erläutert der Künstler 1967. Die Leinwände sind von reliefhaft verdichteten Farbschichten überzogen. Sandbeimischungen unterstützen den haptischen Charakter der Bilder. Die Werkphase lässt sich in zwei Gruppen unterscheiden: Es gibt Bildoberflächen, die vom Verlauf der flüssigen Malmaterie plastisch moduliert sind und andere, die wie ein zerklüftetes Farbrelief wirken, geformt aus parallelen, schmalen Ritzungen. Als Malmittel verwendet Otto Greis vorzugsweise dickflüssige Mastixharzfarbe, die in ihrer Schwärze zum Ausdrucksträger der Bilder wird. Die Farben erscheinen mal trocken–porös, mal flüssig–weich in ihrem Verlauf auf der Leinwand, die während des Malens auf dem Fußboden liegt. Der bildnerische Prozess materialisiert sich geradewegs und vehement. Die Materiebilder von Otto Greis können in dieser Hinsicht als eine „Weiterung des Tachismus“ betrachtet werden.5

Greis realisiert Werke, deren Bildräumlichkeit beeindruckend ist. Ganz bewusst nutzt er Farben, denen raumdynamische Wirkkräfte eigen sind, wie etwa Rot, das optisch hervorspringt, oder Blau, das sich in die Ferne zurückzieht. Hinzu kommen reale plastische Reize durch die pastos aufgetragene Mastixharzfarbe. Der fortwährende Höhen- und Tiefenwechsel, der das Auge des Betrachters unruhig bewegt, verleiht den Werken ihren vitalen, energetischen Charakter. Die Unabgeschlossenheit der Formen, die sich einer Definition entziehen, entwickeln die innerbildliche Verwobenheit mit. Angesichts dieses Farbe-Formgeschehens, das sich in einem ständigen status nascendi zu befinden scheint, fühlt sich der Betrachter an archaische Gestaltungen erinnert, oder eben auch an „prärationale“ Ausdrucksformen, die mit Worten kaum zu erfassen sind. Otto Greis hat bereits Anfang der 50er Jahre die vorgeschichtlichen Höhlen von Nioret, Lasceaux und Altamira besucht, als auch Höhlenmalereien in der Dordogne. Sein Interesse an der Ethnologie verbindet ihn mit Künstlern der Art Brut Bewegung. Bestätigung und Anregung auf seinem Weg wird ihm auch der befreundete Bildhauer Raoul Ubac gegeben haben, der in seinen Schieferritzungen archaischem Vokabular nachspürt. Spätestens seit seinem Umzug 1957 nach La Frette sur Seine, 14 km von Paris entfernt, besucht Otto Greis regelmäßig das Musée de l´Homme, um sein Wissen zu vertiefen. Die beeindruckende Begegnung mit den Kultgegenständen der Naturvölker trägt dazu bei, im eigenen Werk magische Ausdrucksformen herauszuarbeiten. Unterstützt wird diese Bildsprache durch die vorherrschende schwarze Farbe. Das Dunkle in Verbindung mit der schweren Materialität, die scheinbar verborgenen Regeln folgend, für einen Moment zur Bildform erstarrt ist, evoziert den seltsamen, magischen Werkcharakter.

Anlässlich von Otto Greis’ Ausstellung 1959 in der Galerie Parnaß in Wuppertal, in der beinahe alle Materiebilder der Jahre 1956 - 1958 gezeigt werden, notiert der Kunsthistoriker Kurt Leonhard folgende Zeilen, die eine anschauliche Charakterisierung dieser Werkreihe geben: „So entsteht eine neuartige, aufgelöste Bildwelt zwischen Gestalt und Gestaltlosigkeit, Abgrenzung und Ineinandersturz; eine radikal malerische Malerei, offen, fließend, heraklitisch, nie festlegbar. Die Unentrinnbarkeit nicht nur der Gegenstände, sondern auch der abgegrenzten Formen ist endlich überwunden. Subjekt und Objekt, Positiv und Negativ, Seele und Ding, Leben und Tod, Zerstörung und Gestaltung, alle Gegensätze scheinen ineinander übergeführt durch das lösende Medium der Malerei.“ 6



1 Kat. Otto Greis, Bilder der 50er Jahre, Galerie Ostertag, Frankfurt a.M. 1975, o.Pag.

2 Daniel Abadie, Trophäen aus Realitätsfetzen: Vier Hauptvertreter des Materialbildes, Kat. Paris-Paris, 1981, S.228

3 Gespräch Otto Greis/Ulla Siegert, 27.2.1995, zit. n.: Ulla Siegert, Otto Greis. Farbe – Form – Licht, Werkverzeichnis 1945-1995, (Diss.), Hamburg 1999, S.83, Anm.1

4 Brief an Dr. Bussmann, La Frette sur Seine, November 1967, zit. n: Kat. Otto Greis, Landesmuseum Mainz, 1989, S.13

5 Gabriele Lueg, Studien zum deutschen Informel,(Diss.) o.O. 1984, S.140

6 Kurt Leonhard, „Notizen vor den Bildern eines >>informellen Malers<<, in: U.Siegert, Otto Greis, Farbe – Form – Licht, Werkverzeichnis 1945-1995, (Diss.), Hamburg 1999, S.95f